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Deutsche Erstaufführung "Auf Messers Schneide" Gespalten zwischen Faszination und Ekel

Eine vom Magdeburger Konzertpublikum ambivalent aufgenommene deutsche
Erstaufführung bescherte das "Impuls-Festival" für Neue Musik im
Sinfoniekonzert der Magdeburgischen Philharmonie. Das Motto "Auf Messers
Schneide" illustrierte sowohl die textlich-musikalischen Stimmungen -
und die des Publikums.

Von Ulrike Löhr 24.11.2014, 01:17

Magdeburg l Einstimmend in neue musikalische Welten eröffnete das Konzert mit György Ligetis "Lontano". Die Magdeburgische Philharmonie schuf unter der Leitung des gebürtigen New Yorkers und derzeitigen 1. Kapellmeisters am Theater Koblenz Joseph Bousso damit einen sehr emotionalen imaginären Klangraum.

Die äußerst enge Intervall-Struktur des Orchesterstücks war einer steten Transformation unterworfen und doch so statisch. Faszinierend. Wie ineinanderlaufende Wasserfarben verschmolz hier die sich überlagernde Harmonik. Ausgehend von einem gemeinsamen unisono-Ton in Flöte und Cello im extremen Piano breitete sich mit Klarinetten und oktavierten Hörnern eine Klangebene aus, die durch kleinere dynamische Eruptionen den Hörenden mitnahm.

Klanglich nicht greifbare Strukturen

Versetzt mit reichlich Tremolo-Bögen der Streicher entstand eine klangliche aber nicht greifbare Skulptur. Regisseur Stanley Kubrick bediente sich dieser Klanggebilde in seinem Film "Shining".

Die mystische Faszination sollte für das Kommende erhalten werden, deshalb hielt der Dirigent die Stimmung, ein Applaus war an dieser Stelle nicht geplant.

Bei abgedunkeltem Licht ging es fast nahtlos über in die musikalisch illustrierte Horrorgeschichte von Edgar Allan Poe "The Pit and the Pendulum" ("Die Grube und das Pendel"). Composer in residence beim diesjährigen IMPULS-Festival Helmut Oehring, er gehört zu den gefeierten Komponisten der Neuen Musik, schuf daraus sein Monodram "POEndulum" und beschrieb eine grausame Foltererfahrung durch die spanische Inquisition.

Explizit für die Magdeburgische Philharmonie richtete Oehring eine Neufassung für Kontrabass-/Sprecher-Solo und Orchester ein.

Ein Bruder des Jazz-Posaunisten

Mit der Gestaltungskraft des improvisierenden Musikers Matthias Bauer, einer der Brüder des Jazzposaunisten Conny Bauer, hatte Oehring einen unwahrscheinlich innovativen und versierten Künstler gefunden, mit dem er schon mehrere Male zusammengearbeitet hat.

Vor dem Hintergrund, dass Oehring Sohn gehörloser Eltern ist und dies seine persönliche Entwicklung und spätere Kompositionstätigkeit nachhaltig geprägt hat, spielte auch in "POEndulum" die Verknüpfung von Gebärde und Klang eine tragende Rolle. Und so illustrierte Matthias Bauer mit gespenstischem Hauchen, zehrendem Röcheln, kreischenden Ausbrüchen, klaren Texten oder verfremdeten Vokalisen zwischendurch mit virtuosen Kontrabasssoli oder -klanggeräuschen die albtraumhaften Qualen des zum Tode Verurteilten. Das Orchester gestaltete unter anderem mit Papierrascheln, illustrem Schlagwerk, ebenso flüsterndem stimmlichen Einsatz diese Sphäre zwischen Wahn und Realität. Ein Stück zwischen Musiktheater und szenischem Konzert, welches das Publikum in Magdeburg etwas spaltete - irgendwo zwischen künstlerischer Faszination und inhaltlichem Ekel.

So gingen zum zweiten Programmteil ein paar Zuhörer verlustig, schade. Denn mit Leonard Bernsteins 2. Sinfonie "The Age of Anxiety" ("Das Zeitalter der Angst") erklang ein kontrastreicher sinfonischer Gegenpol basierend auf dem Versepos von W. H. Auden.

Obgleich Bernstein diesen 29-jährig als "faszinierend und haarsträubend" empfand, sah er von der vokalen Einbeziehung des Textes ab. Vier fremde Menschen treffen in einer New Yorker Bar zusammen; die Nachrichtenlage ist düster, der Zweite Weltkrieg tobt; man diskutiert, hat gemeinsam existenzielle Ängste, kommt sich näher und bleibt doch allein.

Koreanerin spielt Bernstein

Auf der Suche nach Sinn tauchte Bernstein mit seiner Vertonung ins Unterbewusstsein. Und so ist auch der Klavier-Solopart eher zurückgenommen autobiografisch angelegt. Darauf ließ sich in Magdeburg eine der vielversprechendsten Interpretinnen zeitgenössischer Musik, die Koreanerin Yejin Gil, als diesjähriger Impuls-Artist in Residence genial empfindend ein.

Die Aggregatzustände der Angst stützten abwärtsstrebende Klarinetten- und Oboenduos und lyrisch vorantreibende Streicher. Dort ordnete sich die Solistin perfekt mit einer Kette an reichen Variationen in bemerkenswerter Klavierkultur ein, bis sie später mit ausgeprägten Jazz-Elementen Technik und Rhythmus zeigen konnte.

Gastdirigent Bousso und die Magdeburgische Philharmonie wölbten energetische Spannungsbögen über alles, um den burlesk ausgekosteten Jazz-Gesten und dem großen finalen Hymnus Luft zu lassen. Impulse gab`s viele in diesem spannenden Festivalkonzert.