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Von Heinz Kurtzbach Die Sache mit der Motorik

17.02.2011, 04:29

Zugegeben: Heiner Brand, der mit dem Walrossschnurrbart, sah nicht sehr glücklich aus. Platz elf bei der WM. Du liebe Güte, der ehemalige Handballweltmeister Platz 11! Schmach, Schimpf und Schande. Weltuntergang!

Und an der Theke im "Sportlereck" wurde es laut. Man bemühte gar Giovani Trapattoni: "Spielen wie Flasche leer". Nichts im Akku. "Wird noch schlimmer", warf Franz ein, dessen Figur auch schon bessere Zeiten gesehen hat, "wart mal ab, bis die Kids rangewachsen sind – dann werden wir nicht mal Weltmeister im Sackhüpfen." Geschweige denn im Fußball oder Handball. Pessimismus im Sportlereck.

Franz wusste, wovon er redet, denn Franz war Lehrer und gehört einer Generation an, die erstens noch Lesen gelernt, zweitens mehr als ein Buch zu Hause hat und drittens täglich seine Zeitung liest. Und da stand es schwarz auf weiß: Die Mädels und Jungs werden immer fetter, hängen in der Turnhalle (falls sie je eine solche zu Gesicht bekommen) wie nasse Säcke am Reck und ihre motorischen Fähigkeiten lassen mithin Jahr für Jahr nach; verschwinden einfach im Nirwana, sozusagen.

Und diese Zustände sind jetzt auch wissenschaftlich belegt. So weist eine Studie der Würzburger Universitäts-Klinik nach, dass Kindergartenkinder, also die Drei- bis Sechsjährigen, heute motorisch um ein Vielfaches ungeschickter sind als Mitte der 80er Jahre. 80 Prozent der getesteten Kinder können heute nicht mehr auf einem 30 Zentimeter breiten Streifen balancieren, ohne ihn zu verlassen und auch beim zielsicheren Ballwerfen versagen sie. Und die sollen mal für Heiner Brand und Deutschland Tore werfen?

Die Würzburger Studie wird unterstützt durch Untersuchungen der TU München, die festgestellt hat, dass viele Viertklässler heutzutage keinen Purzelbaum mehr hinbekommen, Sprossenwände nicht erklettern können und nicht mal mehr genug Kraft und Ausdauer haben, eine Klassenwanderung durchzustehen. Fitness? Was ist das?

Nun wird Deutschland allerdings künftig nicht allein seine liebe Mühe damit haben, aus einer heranwachsenden "Generation XXL" flinke Flügelflitzer zu formen. Die europäischen Nachbarn sind nicht viel besser dran. Ein holländisches Unternehmen der IT-Branche hat 2200 europäische Mütter von Kleinkindern befragt und erstaunliche Antworten erhalten: Demnach können Kinder heute eher eine Computer-Mouse und ein Smartphone bedienen, als die Schnürsenkel binden; jedes vierte Kleinkind kann am PC einen Webbrowser öffnen, aber nur jedes Fünfte kann schwimmen; die Kinder lernen laufen etwa zur gleichen Zeit wie das Bedienen des PC. Herumtoben, Radfahren, Rennen, Klettern? Fehlanzeige. Die Bewegung des Nachwuchses beschränkt sich auf die Fingerfertigkeit an der Tastatur.

Es fehlt also nach all diesen Studien nicht an Erkenntnissen – aber wo sind die Abhilfen? "Nur keine Panik auf der Titanic", wiegelte Horst hinter der Theke ab und entwickelte seine Theorie: Was man brauche, sei ein emotionaler Schub. Aha. Denn, meint Horst, richtig alarmiert werde man erst sein, "wenn die lieben Kleinen als erstes Wort nicht mehr "Mama" plappern und nicht "Papa" und auch "Oma" nicht, sondern: "Facebook", klar und deutlich "Facebook".

"Dann", sagt Horst, "haben wir Revolution im Kinderzimmer mit Frühsport und Waldlauf." Dann klappt’s auch mit der Motorik und alles wird gut. Aber ob Heiner Brand so lange warten kann?