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Literatur Wortmächtig und aufmüpfig

Weit mehr als 200 Tagebücher und 30 000 Seiten Stasi-Akten: Das ist das Material, aus dem Wolf Biermann sein Leben erzählt.

Von Nada Weigelt 09.10.2016, 23:01

Berlin l Wolf Biermann hat die deutsch-deutsche Geschichte geprägt wie kaum ein anderer. Die Ausbürgerung des regimekritischen Liedermachers vor 40 Jahren läutete das Ende der DDR ein und ebnete den Weg für die deutsche Einheit. Kurz vor seinem 80. Geburtstag legt der wortmächtige Poet, der aufmüpfige Widerständler und bekehrte Kommunist jetzt seine Lebenserinnerungen vor – wie kann es anders sein, unter einem seiner Liedtitel: „Warte nicht auf bessre Zeiten“.

Um es gleich vorweg zu sagen: Die satten 500 Seiten sind kein Enthüllungsbuch, das neue Einblicke in die Zermürbungs- und Bespitzelungsmaschinerie der Stasi gibt. Aber die zahllosen verrückten Geschichten, die kleinen unglaublichen Vorfälle und die großen traumatischen Brüche fügen sich zu einem Bild, das die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts spiegelt.

Vor allem wird deutlich, warum der kleine Junge aus dem Hamburger Hinterhof sich so furchtlos mit den Mächtigen in der DDR anlegte. Der jüdische Vater, ein überzeugter Kommunist, war 1943 im KZ Auschwitz ermordet worden – der Sohn war noch keine sieben. „Das hat mich geprägt und verpflichtet“, sagt Biermann im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. „Es hat mir aber auch die Kraft und den Mut gegeben, mich mit den mächtigen Schweinehunden in der DDR auf Streit einzulassen.“

Die Mutter Emma schickt den 16-Jährigen nach Gadebusch aufs DDR-Internat. Er soll den Vater rächen, indem er im jungen Arbeiter- und Bauernstaat dessen Wunschtraum vom wahren Sozialismus mit aufbaut. Doch die Tiefschläge kommen schnell. Nach einer zweijährigen Assistenz am Theater seines großen Vorbilds Bertolt Brecht und der Förderung durch den Komponisten Hanns Eisler eckt er mit ersten Liedern an, 1965 bekommt er Totalverbot.

„Ohne meinen uralten Kinderglauben an den Kommunismus wäre ich im Krieg gegen diese Altmänner-Diktatur zusammengebrochen“, schreibt Biermann. Im eigenen Land darf er keine Zeile veröffentlichen, doch im Westen werden seine subversiv-poetischen Lieder so populär, dass sie heimlich kopiert massenhaft auch in der DDR kursieren. Vor allem sein legendäres Album „Chausseestraße 131“, benannt nach der Adresse seiner verwanzten Wohnung nahe dem Ost-West-Bahnhof Friedrichstraße, wird Kult. Als er am 13. November 1976, dem Geburtstag seines Vaters, ein viereinhalbstündiges Konzert in Köln gibt, wird drei Tage später in den Nachrichten seine Ausbürgerung verkündet: Er habe bei dem Konzert die DDR verleumdet und verraten. „Ich war wie in die Tonne getreten“, notiert er. „Mir wurde elend vor Angst, dunkel vor Augen. Aus! Alles aus! Biermann hinüber! Ausgesungen! Ausgedichtet!“

Natürlich war es nicht die Ausbürgerung an sich, die die DDR ins Wanken brachte. Auch nicht der massive Protest aus dem Westen. Nein, es ist, wie der Autor betont, der unerwartete Widerstand der Künstler und Intellektuellen aus dem eigenen Land. Auf Initiative des einstigen Vorzeigeschriftstellers Stephan Hermlin fordern Größen wie Christa Wolf, Stefan Heym, Günter Kunert und Heiner Müller die Rücknahme der Entscheidung, fast hundert weitere Künstler schließen sich an. Ein beispielloser Erosionsprozess beginnt, auch wenn es noch 13 weitere Jahre bis zum Mauerfall dauern soll.

Wolf Biermann erzählt das alles mit unendlicher Liebe zum Detail in seiner bildreichen, gedrechselten Sprache – gnadenlos subjektiv, bisweilen eitel und oft vergnüglich. Keineswegs ausgespart sind die zahllosen großen und kleinen Liebschaften, die ihm – gelegentlich auch gleichzeitig – insgesamt sieben Söhne und drei Töchter beschert haben. Und natürlich nimmt auch die Zeit nach der Wende noch breiten Raum ein, in der es nicht nur um die Aufarbeitung der Stasi-Akten, sondern auch um die neue Rolle als glühender Anti-Kommunist geht.

Doch das Herzstück bleibt die Geschichte in der DDR, die ihn zu dieser besonderen historischen Figur machte. Manchmal wüsste man über die schieren Ereignisse hinaus gern noch mehr von den Gesprächen, den inneren Kämpfen, die ihn mit anderen Regimekritikern verbanden. Auch die häufigen prominenten Besuche aus dem Westen, von Heinrich Böll bis Günter Grass, bleiben knapp. Aber wie sagt er selbst: Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte das Buch mindestens 10  000 Seiten haben müssen. Da war dann aber doch seine Frau Pamela davor, die seit inzwischen mehr als 25 Jahren für Ordnung in seinem Leben sorgt.

Wolf Biermann, „Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie“, Propyläen Verlag Berlin 2016, 576 Seiten, 28 Euro, ISBN 978-3-549-07473-2 (erschien am 8. Oktober) – Wolf Biermann, „Im Bernstein der Balladen, Lieder und Gedichte“, Propyläen Verlag Berlin 2016, 240 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-549-07479-4 (erscheint am 14. Oktober)