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Jugendwerkhof Stemmen gegen das Vergessen

Sie wenden sich gegen das Vergessen - ehemalige Insassen des Jugendwerkhofes Burg. Am 3. Juni treffen sie sich wieder auf Gut Lüben.

Von Andreas Mangiras 30.05.2017, 11:00

Burg l Ein Brief vom 1. Dezember 1970 belegt beispielhaft: Die Insassen des Jugendwerkhofes „August Bebel“ in Burg waren für die Planerfüllung in hiesigen Betrieben wichtig. Sie wurden fest eingeplant. Dabei sollten sie doch eine Ausbildung erhalten.

Worum ging es in dem Schreiben? Der Jugendwerkhof sollte um 40 Mädchenplätze erweitert werden. Grund: Das Knäckewerk Burg hatte „dringend die Arbeitsplätze benötigt, um den Exportplan zu erfüllen …“ Der Betrieb forderte dringend Klarheit. Die Abteilung Volksbildung, Referat Jugendhilfe beim Rat des Bezirkes Magdeburg informierte das zuständige Ressort im DDR-Volksbildungsministerium, welche Lösungswege beschritten werden könnten. Unter anderem war der Bau eines Jugendwohnheims für Mädchen erwogen worden.

Der Jugendwerkhof Burg „August Bebel“ war der größte seiner Art in der DDR. Hier waren ständig knapp 300 Jugendliche untergebracht und erlebten oft schlimme Zeiten. Er existierte von 1949 bis 1989. Auf Teilen des Geländes sind heute das Corneliuswerk und die evangelische Grundschule untergebracht. 1989 gab es in der DDR 31 Jugendwerkhöfe mit 3336 Plätzen, von denen 2607 belegt waren.

Am 3. Juni ist es wieder soweit. Auf Gut Lüben treffen sich wieder ehemalige Insassen des Jugendwerkhofes in Burg. Ab 10 Uhr wird es Gespräche geben, Gedankenaustausch und einen Rundgang über das Gelände des Jugendwerkhofes. Organisiert hat es zum dritten Mal der Leipziger Volkmar Jenig. Es ist das insgesamt elfte Treffen dieser Art. Die Treffen werden unterstützt und begleitet vom Corneliuswerk. Federführend dabei ist Frank Garnich, der pädagogische Leiter im Bereich Kinder-, Jugend- und Familienhilfe.

Die Ehemaligen wollen mit den Treffen „ein Zeichen setzen. Ein Zeichen gegen das Vergessen“, sagt Jenig. „Auf der Suche nach Antworten, Antworten auf das Warum.“

Die Jugendlichen, oft herausgerissen aus ihren Familien, sollten erzogen werden, im Sinne der DDR. Sie waren aber auch ein Wirtschaftsfaktor der in der Region ansässigen Betriebe, so wie die Knäcke-Werke, Wolltuchwerk und Schuhfabrik „Roter Stern“, Brauerei in Burg und Magdeburg. „Viele leiden noch heute unter dem Erlebten, doch Hilfe bekommen sie kaum, es leben viele heute in Altersarmut“, weiß Jenig. „Sie müssen um ihre Rechte kämpfen, ein Kampf der oft aussichtslos ist, da die gesetzlichen Grundlagen nicht gegeben sind, man aber auch keine Bereitwilligkeit sehen kann, um diese zu schaffen. Oftmals fehlt es auch an dem nötigen Verständnis, die Ehemaligen verstehen zu können.“

Aber Jenig, der von 1968 bis 1970 in Burg einsaß, ist zuversichtlich. „Es gibt Fortschritte, kleine, aber es gibt sie und das ist gut.“

Im vorigen Jahr gab es erste Begegnungen mit Bürgern und früheren Erziehern. Jenig und seine Mitstreiter hoffen, dass sich dies fortsetzen lässt. „Bei dem Treffen möchte man nicht nur unter sich sein, um Gedanken auszutauschen, sondern auch mit ehemaligen Erziehern und Ausbildern. Gern würden sich die Ehemaligen auch mit Vertretern von Stadt und Land unterhalten wollen im Hinblick auf die Schritte in die Öffentlichkeit. Viele Bürger der Stadt haben eine falsche Vorstellung davon, wer und warum er oder sie einst auf Gut Lüben leben mussten.“

Im Auftrag des Corneliuswerkes entsteht eine Erinnerungstafel, die der Geschichte von Gut Lüben in all seinen Facetten und Widersprüchlichkeiten Rechnung tragen soll, erklärt Stefan Böhme, Corneliuswerk-Geschäftsführer für den Bereich Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. Weil dies keine leichte Aufgabe ist, hat sich das Corneliuswerk dafür wissenschaftlichen Beistand und Rat eingeholt. Dr. Steffen Meyer, bei der Dachstiftung Diakonie auch für geschichtliche Aufarbeitung zuständig, hat die Geschichte von Gut Lüben dafür erforscht.

Dass Kinder und Jugendliche auf Gut Lüben untergebracht waren, hat eine mehr als 100-jährige Geschichte. Am 1. Februar 1913 eröffnete hier die „staatliche Landeserziehungsanstalt Gut Lüben für zwangseingewiesene, schulentlassene männliche Jugendliche evangelischer Konfession“. Von 1933 bis 1945 steht das Handeln im Heim unter nationalsozialistischen Prämissen. Dazu gehören paramilitärische und körperliche Ertüchtigung. Es gab Zwangssterilisationen, weiß Dr. Steffen Meyer. Viele Insassen gehen nach ihrer Entlassung ab 1939 an die Front.

1945 besetzt die Rote Armee Gut Lüben, richtet hier ein Lazarett und eine TBC-Heilstation ein. Ab 1949 bis 1989 folgt der Jugendwerkhof.

Nach der Wende übernimmt das Land Sachsen-Anhalt den Jugendwerkhof August Bebel und wandelt ihn in ein Landesjugendheim um. Das am 27. Juni 1991 gegründete Corneliuswerk Burg, das sich neben der Altenhilfe auch der Jugendhilfe verschrieben hat, übernimmt Teile von Gut Lüben.

„In der mehr als 100-jährigen Geschichte vom Gut Lüben sind in der Zeit von 1949 bis 1989 viele Kinderseelen gebrochen worden“, sagt Volkmar Jenig. „Dabei wollten sie doch nur aufwachsen wie die Kinder und Jugend von heute, frei und ohne Zwang.“