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Göhrde-Morde Es sind nur starke Indizien

Die Polizei wähnt sich dem Göhrde-Mörder so dicht auf den Fersen wie nie zuvor. Werden die barbarischen Verbrechen endlich aufgeklärt?

Von Björn Vogt 18.07.2017, 23:01

Göhrde l Die Polizei Lüneburg hat sichere Beweise, dass der Friedhofsgärtner Kurt-Werner Wichmann aus Brietlingen die Unternehmersgattin Birgit Meier vor 28 Jahren umgebracht hat. Der Mord ereignete sich nur wenige Wochen nach den Göhrde-Morden und nur 30 Kilometer entfernt. Weitere sechs unaufgeklärte Mordfälle wurden seit dem vergangenen Jahr nochmal aufgerollt – für alle könnte der blonde Gärtner, so mutmaßt die Polizei, verantwortlich sein.

Das Perfide ist: Wichmann saß mehrfach im Gefängnis wegen Vergewaltigung, Entführung und Folter, wegen Schießereien mit der Polizei, wegen des Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und Mordversuchen. Es gab Ermittlungen und Urteile, lange Haftstrafen und eine Flucht.

Das Leben Wichmanns war geprägt von Gewaltverbrechen. Man sah dem Friedhofsgärtner seine Neigungen nicht an. Im Gegenteil: Auf Fotos wirkt der blonde, schlanke Mann mit dem geföhnten Seitenscheitel gepflegt und überaus bieder. Verhören kann ihn niemand mehr: Der damals 44-Jährige erhängte sich am 25. April 1993 in seiner Zelle während einer U-Haft.

Der Experte Jens Fuhrmann aus Lüneburg sammelt seit Jahren alle Details über die Göhrde-Morde und schreibt ein Buch über die Verbrechen. Er war Teilnehmer eines Experten-Symposiums, das die Göhrde-Morde vor drei Jahren am Tatort nachstellte.

Volksstimme: Ist Kurt-Werner Wichmann tatsächlich der gesuchte Mann?

Jens Fuhrmann: Aus meiner Einschätzung heraus ist er möglicherweise im Fall Birgit Meier verantwortlich. In dieser Richtung ist ja auch zum damaligen Zeitpunkt gegen ihn ermittelt worden. Allerdings reichten die Indizien nicht aus, um ihm eine Täterschaft nachzuweisen. Die mittlerweile deutlich besseren Möglichkeiten im Rahmen der DNA-Analyse und auch die Verbindung des Opfers zum Polizeichef Wolfgang Sielaff aus Hamburg, der der Bruder der Vermissten ist, sind sicher die treibenden Kräfte, dass in diesem Fall weiter ermittelt wird und auch zusätzliche neue Hinweise gefunden werden konnten. Schwierig wird es für die Ermittlungsbehörden hingegen auch weiterhin bleiben, sofern nicht der Leichnam der Birgit Meier gefunden wird, denn so lange bleibt es ein ungeklärter Vermisstenfall. Eine Täterschaft Wichmanns im Göhrde-Fall oder auch anderen unaufgeklärten Mordfällen im Lüneburger Raum halte ich für eher unwahrscheinlich.

Was spricht dafür, was spricht dagegen?

Auf den ersten Blick sprechen möglicherweise folgende Aspekte für eine Täterschaft Wichmanns: Aussagen, dass Wichmann tagelang in der Göhre unterwegs war - mit Waffen und Lebensmitteln; gefundene, gesammelte Zeitungen, die explizit über Göhrde-Morde berichteten; Kleinkaliberwaffen, die bei Kurt Werner W. gefunden wurden; die direkte zeitliche Nähe zum Verschwinden von Birgit Meier. Bei genauerem Hinsehen kann ich jedoch keine schlüssigen Hinweise erkennen, die für eine Täterschaft Wichmanns sprechen. Das lässt sich an zwei Beispielen festmachen.

Die Polizei findet in diesem Geheimzimmer Wichmanns Kleinkaliber-Waffen. Zumindest im Fall der Göhrde wurde wahrscheinlich eine Waffe mit einem Kleinkaliber eingesetzt – also beim zweiten Opferpaar. Beim ersten wurde nicht geschossen. Bei Birgit Meier weiß man nichts darüber, weil es offiziell ein Vermisstenfall ist, also keine Leiche gefunden wurde, an der man Verletzungsbilder/-muster hätte festmachen/nachweisen können – daher auch die Aktivitäten im Bezug auf Exhumierungen im Raum Lüneburg.

Was beweist aber nun der Besitz von Kleinkaliber-Waffen? Möglicherweise illegaler Waffenbesitz. Gut. Mehr aber auch nicht. Sofern keine Verbindung der Waffen zum Einsatz im Göhrde-Fall oder anderen Fällen hergestellt werden kann, beweist dies gar nichts. Da man ein Projektil im Göhrde-Fall nicht fand, wird die Verbindung zu Waffen, die man bei Wichmann fand, umso schwieriger. Mit einem Projektil sähe das anders aus, denn ein Projektil hinterlässt Spuren des Inneren des Laufs und der Waffe, die wie Fingerabdrücke unverwechselbar sind. Somit gibt es allenfalls Hinweise auf illegalen Waffenbesitz, aber keine Verbindung zu den Göhrde-Fällen und schon gar keine Beweise.

Im vergrabenen Ford Probe fand man Ausgaben der Morgenpost, insbesondere die der Göhrde-Morde! Aber was beweist das? Vor dem Hintergrund seiner Vorgeschichte, der wiederholten Straffälligkeit und der Verurteilungen wird man sagen, dass es sich um starke Indizien für eine Beteiligung an dieser oder möglicherweise auch an anderen Taten handelt. Ja. Möglicherweise. Mehr aber auch nicht.

Die gefundenen Zeitungen und das Verschwinden von Birgit M. sehe ich durchaus in einem Zusammenhang. Allerdings in einem anderen als in einer direkten Täterschaft Wichmanns für die Göhrde-Morde. Zum einen lagen diese Zeitungen zur damaligen Zeit sicher in hunderten, wenn nicht tausenden Haushalten in der Region Lüneburgs, weil der Fall Aufsehen erregte, höchst spektakulär war und Angst in der Bevölkerung auslöste. W. könnte sich diese Hysterie aber auch zu Nutzen gemacht haben. Die Polizei Lüneburg arbeitete mit allen verfügbaren Kräften plus weiterer Beamter umliegender Polizeidienststellen am Fall der Göhrde-Morde. Der Ermittlungsdruck war immens hoch. Das mag jetzt hart klingen, aber welche Bedeutung hat in einer solchen Situation ein Vermisstenfall, wenn der Fokus der Ermittlungsbehörden auf der Aufklärung von vier Tötungsdelikten lag? Möglicherweise half ihm das.

Die Aussage der Morgenpost, dass sich Wichmann mit Waffen und Lebensmitteln tagelang in der Göhrde aufgehalten haben soll, halte ich im übrigen für frei erfunden. Bei all dem Beschriebenen handelt es sich also um Indizien, Hinweise... Aber eben nicht um Beweise.

Dass Wichmann für die meisten, nach allem, was man bisher weiß, als krankhaft eingestuft wird, steht wohl außer Frage. Aber all das, was man fand und mittlerweile weiß, hilft nur dann in Ermittlungsfällen, wenn man daraus einen schlüssigen Beweis herleiten kann. Und genau das kann man nicht. ​

Was veranlasste die Polizei, mit dem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen?

Die Polizei ist ja gar nicht im Fall der Göhrde-Morde an die Öffentlichkeit gegangen. Die Öffentlichkeitswirksamkeit entstand durch die Morgenpost-Artikel, die im vergangenen Jahr über mehrere Tage hinweg erschienen sind. Nach meinen Informationen war die Polizei Lüneburg nicht glücklich über diese Berichterstattung.

In der öffentlichen Darstellung wird zudem primär der Fall Birgit Meier beleuchtet. Und auch hier ist wichtig, die Reihenfolge der jeweiligen Sonderkomissionen (SOKO) zu sehen. Im Herbst 2015 entstand die SOKO Birgit M. und erst im Januar 2016 die SOKO Iterum – Göhrde, bestehend aus zwei Personen – für die routinemäßige Überprüfung neuer Erkenntnisse aus dem Fall Birgit Meier, die eine Relevanz für die Göhrde-Morde haben könnten.

Bei den Göhrde-Morden betont man aber, dass es sich um eine rein routinemäßige Überprüfung der alten Fälle – beide Doppelmorde – handelt. Neue Erkenntnisse liegen hier hingegen nicht vor.

Wie geht es weiter, sollte sich die Fährte als falsch herausstellen?

Meiner Einschätzung nach dient der Fall Birgit Meier als eine Art Pilot. Sollte die Überprüfung von Asservaten mit den neuen DNA-Möglichkeiten erfolgversprechend verlaufen und man zudem eine Leiche findet und durch DNA-Spuren möglicherweise Wichmann als Täter identifizieren könnte, wäre das ein wichtiger Schritt, auch im Fall der Göhrde-Morde mit den technischen Möglichkeiten heutiger DNA-Instrumente, die Asservate im Göhrde-Fall neu zu untersuchen. Wenn es im Fall der Göhrde-Morde noch zu einer Aufklärung kommt, wird dies sicher nur durch „Kommissar Zufall“ passieren. Die heutigen Möglichkeiten der DNA könnten diesen Zufall aber durchaus abbilden.