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Vergessene Orte Kleinstadt vor den Toren Salzwedels

Wo sich heute Eigenheime und Ackerflächen befinden, lebten zwischen 1914 und 1921 bis zu 10.000 Kriegsgefangene.

Von Marco Heide 22.12.2016, 18:24

Salzwedel l Ein Kino, eine eigene Währung und Arbeitsmöglichkeiten – ab Herbst 1914 entstand vor den Toren Salzwedels eine Kleinstadt mit 10.000 Einwohnern. Hauptsächlich Soldaten aus dem russischen Zarenreich, Frankreich und Belgien kamen in dem riesigen Kriegsgefangenenlager unter.

Die fast rechtwinklige Anlage stand nördlich der heutigen Arendseer Straße (B 190) vom Kastanienweg auf Höhe des Autohauses „Sternpartner“ bis etwa 300 Meter vor der Verbindungsstraße B 190-Ritze (Ost-West-Ausdehnung). In der Tiefe reichte der westliche Teil des Lagers fast bis an die heutige Gartenanlage „Hilgenholz“ an der Ritzer Brücke heran.

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges internierte die Reichswehr sowohl Gefangene von der West- als auch von der Ostfront in Salzwedel. Im Verlauf des Konfliktes entwickelte sich die Anlage zu einem Speziallager für Ukrainer. Wann das genau war, ist laut Jens Winter vom Altmärkischen Verein für Vaterländische Geschichte unklar. „Am 28. Mai 1916 gab es eine Schewtschenko-Gedenkfeier (bekannter Dichter aus der Ukraine). Zu diesem Zeitpunkt muss es bereits ein Speziallager gewesen sein“, schlussfolgert Winter.

Der Lehrer an der Jeetzeschule hat sich im Jahr 2014 gemeinsam mit seinen Schülern mit dem Thema Kriegerdenkmäler in Salzwedel beschäftigt und dabei auch das Gefangenenlager und den dazugehörigen Friedhof, der heute verborgen zwischen Birken- und Ahornweg südlich der Arendseer Straße liegt, thematisiert.

Die vorhandenen Aufzeichnungen, Briefe und Bilder erwecken ein beinahe positives Bild vom Lagerleben. Die Insassen durften und sollten sogar außerhalb des Camps arbeiten und Geld verdienen. So ist belegt, dass Gefangene unter anderem in der Zuckerfabrik und bei der Salzwedeler Kleinbahn eine Anstellung fanden.

Im Lager gab es weitere Jobs, eine eigene Währung und es entwickelte sich ein kulturelles Leben. Aber: Zwischen 1914 und 1921 starben in dem Camp mindestens 456 Menschen. Und Jens Winter gibt zu bedenken, dass die existierenden Fotos offensichtlich gestellt sind und mit Vorsicht zu genießen seien. Sie sollten den Angehörigen daheim das Gefühl vermitteln, dass mit den Männern alles in Ordnung sei.

Nach dem Ersten Weltkrieg blieb das Lager bis 1921 geöffnet. Zum Ende hin waren hauptsächlich Beteiligte des russischen Bürgerkrieges in Salzwedel interniert. Dabei soll die altmärkische Kreisstadt auch ein Nest des Widerstandes gegen die Bolschewisten gewesen sein. Allerdings ist das aus Sicht von Jens Winter etwas übertrieben. Fakt ist aber, dass im Gefangenenlager Salzwedel ein gewisser Pawel Michailowitsch Bermondt-Awaloff einsaß.

Bermondt-Awaloff stellte in Salzwedel eine etwa 300 Mann starke Truppe auf, die im Bereich Riga kämpfte und die Monarchisten unterstützte. Die kleine Armee operierte aber relativ autark und war wahrscheinlich nur ein kleines Rädchen in der großen Bürgerkriegsmaschinerie. Allerdings beruhen nahezu alle weiteren Informationen auf einer selbst verfassten Biografie des selbst ernannten Fürsten Bermondt-Awaloff. „Eine obskure Gestalt“, schätzt Winter ein. Deshalb will der Historiker die Rolle des Lagers Salzwedel nicht überbewerten.

Heute existieren, bis auf eines, keine baulichen Überbleibsel des Lagers. Lediglich der Sockel des Ukrainer-Denkmals auf dem Friedhof existiert noch. Dazu lesen Sie mehr in der nächsten Folge „Vergessene Orte“.