1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. "Krim-Referendum mit Panzern durchgepeitscht"

Interview mit Martin Schulz "Krim-Referendum mit Panzern durchgepeitscht"

Martin Schulz ist Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemkraten für
die Europawahl. Wird er gewählt, will er EU-Kommissionspräsident werden.
Mit ihm sprach Volksstimme-Redakteur Steffen Honig.

20.03.2014, 01:21

Volksstimme: Sie können sich auf einen breiten Rückhalt der europäischen Sozialdemokratie stützen, glauben Sie, dass dies für den Erfolg gegen den konservativen Kontrahenten Jean-Claude Juncker ausreicht?
Martin Schulz: Ich bin sehr zuversichtlich. Ich will in den kommenden Wochen meine Vorstellungen von einem neuen und besseren Europa diskutieren. Ein Europa, in dem es gerechter zugeht, weil Steuerschlupflöcher geschlossen werden, weil es nicht sein darf, dass jeder einfache Bürger sich an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt, aber einige große Unternehmen und Privatpersonen Millionenbeträge am Fiskus vorbeischleusen. Ich will ein Europa, das engagiert etwas gegen Jugendarbeitslosigkeit unternimmt, denn wir haben Milliardenbeträge in die Bankenrettung gesteckt und nur wenig Geld für unsere jungen Leute ausgegeben. Dadurch ist Vertrauen verloren gegangen und es gibt eine soziale Spaltung auf unserem Kontinent. Das möchte ich wieder ändern.

Volksstimme: Es gibt Kritik daran, dass Sie Ihren Posten als Parlamentspräsident nicht während des Wahlkampfes ruhen lassen. Warum tun Sie das nicht?
Schulz: Ich war überrascht, als diese Frage aufgeworfen wurde, denn ich kenne kein Beispiel in einem EU-Mitgliedsstaat, in dem ein gewählter Amtsträger während eines Wahlkampfes zurücktritt. Auch keiner meiner Vorgänger hat als Parlamentspräsident sein Amt ruhen lassen.

Volksstimme: Das Parlament soll nur eine Zwischenstufe sein - Sie wollen eigentlich José Manuel Barroso als EU-Kommissionspräsident beerben. Was wollen Sie anders machen als der Portugiese?
Schulz: Ich bin durch und durch Parlamentarier und finde nicht, dass ein Mandat als Abgeordneter eine Zwischenstufe ist. Aber als Kommissionspräsident will ich einen Mentalitätswandel erreichen, damit wir das Subsidiaritätsprinzip wieder ernster nehmen, das heißt, dass die EU sich nicht überall einmischt.
Die Leute ärgern sich zu Recht, wenn Brüssel regeln will, was für Olivenölkännchen in Restaurants auf dem Tisch stehen. Das ist absurd. Aber dass sich die EU darum kümmert, dass auch in Zeiten der Globalisierung unsere hohen Sozial-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards weiterhin gelten und dass sich andere Weltregionen daran halten müssen, wenn sie mit uns Handel treiben wollen, das halte ich für vernünftig.

Volksstimme: Was sind die Kardinalprobleme der Europäischen Union?
Schulz: Europa war früher ein Problemlöser. Heute wird die EU selbst als Problem wahrgenommen.
Manche Populisten kochen in dieser Situation ihr gefährliches Süppchen, in dem sie den Menschen einreden wollen, ohne die europäische Einigung ginge es uns besser. Das ist falsch, denn wenn wir uns in unsere nationalen Einzelteile zerlegen, werden wir zum Spielball von anderen. Deshalb müssen wir in Europa unsere Hausaufgaben machen. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir unsere Industrie und unseren Mittelstand stärken müssen, damit auch im 21. Jahrhundert die hochwertigen Produkte aus Europa kommen und so gute und sichere Arbeitsplätze bei uns erhalten bleiben.

Volksstimme: Zumindest soll nach Ihren Vorstellungen die Zentrale nicht mehr alles erledigen, Entscheidungen an Staaten und Regionen zurückgeben und sich den großen Aufgaben widmen. Welche sind das für Sie?
Schulz: Wenn etwas in einem Land erfolgreich funktioniert, gibt es keinen Grund, dass das von Brüssel aus bekämpft wird. Das deutsche Sparkassenmodell ist ein Beispiel, weil es jahrelang von der Kommission hinterfragt wurde. Darüber habe ich mich geärgert, weil dieses Modell bei uns hervorragend funktioniert und mit dafür sorgt, dass kleine Unternehmer an Kredite kommen, wenn sie die für Investitionen brauchen. Aber wenn es um die Verhandlungen von internationalen Handelsverträgen geht, dann wird das nicht funktionieren, wenn die 28 EU-Staaten einzeln mit den USA oder mit China verhandeln. Denn dann würden wir an die Wand gespielt. Auch bei der Bekämpfung der Steuerflucht, bei Energiesicherheit, Klima- und Verbraucherschutz und einer humanen Flüchtlingspolitik brauchen wir die europäische Zusammenarbeit und keine Renationalisierung.

Volksstimme: Unerträglich ist der Wanderzirkus des Parlaments zwischen Straßburg und Brüssel. Wollen und können Sie das ändern?
Schulz: Um das zu ändern, brauchen sie eine einstimmige Entscheidung aller 28 nationalen Regierungen. Das ist aber nicht realistisch und da kann weder das Parlament noch die Kommission etwas dran machen.

Volksstimme: Die Briten planen ein Referendum über den EU-Verbleib, wenn sich die Union nicht ändert. Wo können Sie Premier David Cameron bei den Reformvorstellungen folgen, wo nicht?
Schulz: Ich möchte, dass Großbritannien in der EU bleibt und mein Eindruck ist, dass das mehr und mehr Briten auch so sehen. Die britische Labour-Partei hat jüngst gesagt, dass sie Zweifel an dem Zeitplan von Herrn Cameron in Sachen Referendum hat. Deshalb ist es mehr als unsicher, ob es überhaupt zu einem solchen Referendum kommt.

Volksstimme: Durch Europa geistert zudem der Euroskeptizismus in Form verschiedenster, auch extrem rechter Parteien. Im neuen Parlament dürften die Europagegner eine starke Kraft bilden. Wie werden Sie damit umgehen?
Schulz: Schon heute haben wir extremistische und radikale Parteien im Parlament. Keine dieser Parteien hat zur Lösung nur eines einzigen Problems beigetragen. Bisher haben es diese Gruppierungen auch nicht geschafft, eine effektive Zusammenarbeit zu organisieren. Die Unterschiede bei diesen Parteien sind einfach zu groß. Mir kommt es darauf an, dass wir eine hohe Wahlbeteiligung hinbekommen, damit solche Gruppierungen nicht stark werden.
Dadurch, dass wir in Deutschland bei der Europawahl nun keine 3-Prozent-Hürde mehr haben, müssen alle Demokraten ihre Anstrengungen noch verstärken, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen und so die Radikalen aus dem Parlament herauszuhalten. Denn die Rechtsextremen haben in der Vergangenheit schon einmal Unglück über Europa und die ganze Welt gebracht. Das sollten wir nicht vergessen.

Volksstimme: Bestimmte Projekte dürften dadurch schwieriger werden: Nehmen wir die Erweiterung, die an ihre Grenzen stößt. Ist nach dem Westbalkan Schluss, die Verhandlungen mit der Türkei könnten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag laufen und eine Assoziierung mit der Ukraine ist die Vorstufe der Vorstufe einer EU-Kandidatur ...
Schulz: Die EU führt mit einigen Ländern Beitrittsverhandlungen, aber bei keinem Land steht der Beitritt unmittelbar bevor. Die EU muss jetzt dringend ihre inneren Reformen voranbringen, weil sie ansonsten gar nicht in der Lage ist, neue Mitglieder aufzunehmen.

Volksstimme: Es gibt Sezessionsbestrebungen nicht nur auf der Krim. Schottland, Katalonien sind weitere Kandidaten. Wie sollte die EU damit umgehen?
Schulz: Ich glaube nicht, dass wir diese Beispiele alle in einen Topf werfen dürfen. In Schottland findet ein demokratisches Referendum statt, das über lange Zeit diskutiert und vorbereitet worden ist. Auf der Krim ist das Referendum durchgepeitscht worden und es standen Panzer und bewaffnete Soldaten auf der Straße. Insofern ist das nicht vergleichbar. Aber klar ist: Eine föderale Struktur, bei der die regionalen und lokalen Besonderheiten berücksichtigt werden, auch wenn man Teil eines Nationalstaates oder einer europäischen Einheit ist, ist der beste Weg, um Zustimmung zu erlangen. Einheit in Vielfalt ist für mich das richtige Konzept.

Volksstimme: Was sagen Sie den Menschen im Wahlkampf: Warum sollten Sie Ihre Stimme abgeben?
Schulz: Zum ersten Mal können die Menschen direkt Einfluss darauf nehmen, wer der nächste Kommissionspräsident wird. Mit Herrn Juncker und mir gibt es zwei aussichtsreiche Kandidaten. Die simple Botschaft lautet: Wer Martin Schulz als Kommissionspräsidenten sehen will, muss am 25. Mai SPD wählen. Dann kann ich meine Vorstellungen von einem demokratischen, sozialen und gerechten Europa umsetzen.