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Der neue Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur Jahn: Ich werde meinen Verstand durch mein Herz lenken lassen

22.03.2011, 04:30

Von Wolfgang Schulz

Mit Roland Jahn als Chef der Bundesbehörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) hat ein neuer Abschnitt in der Aufarbeitung der SED-Diktatur begonnen. Schon in seiner Antrittsrede vor gut einer Woche ließ der 57-Jährige deutliche Unterschiede zu seinen beiden Vorgängern Joachim Gauck und Marianne Birthler erkennen. Noch deutlicher wurde er bei seinem ersten Arbeitsbesuch, der ihn vor wenigen Tagen in die ehemalige "Zentrale des Terrors", nämlich in das einstige berüchtigte Stasi-Untersuchungsgefängnis in Berlin-Hohenschönhausen führte.

Während eines Podiumsgesprächs mit dem Direktor der heutigen Gedenkstätte, Hubertus Knabe, umriss Jahn, der selbst unschuldig in DDR-Gefängnissen gesessen hat, seine Vorstellungen über sein neues Amt. "Ich werde meinen Verstand durch mein Herz lenken lassen", rief er den Versammelten zu, von denen viele selbst den Stasi-Knast erleben mussten. "Die Aufarbeitung der DDR-Diktatur ist keine rationale Angelegenheit", sagte Jahn, "das wird den Menschen, wegen denen wir die Aufarbeitung machen, nicht gerecht." Es müssten die Empfindungen der Opfer einbezogen werden. Er sehe sich daher als Anwalt der Opfer.

In diesem Zusammenhang legte der frühere Fernsehjournalist, der 1983 gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert worden war, den Finger in eine Wunde, die seine Vorgänger nicht heilen konnten: die Beschäftigung von immer noch rund 50 ehemaligen hauptamtlichen Stasi-Leuten in der BStU. "Wie müssen sich Opfer fühlen, wenn sie wissen, dass ihre Akten von den Leuten verwaltet werden, die sie auch erstellt haben?", fragte Jahn. Die Behörde verliere dadurch ihre Glaubwürdigkeit.

Nach der Wende waren ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zunächst benötigt worden, um einen Überblick über den mächtigen Unterdrückungsapparat zu bekommen. Später haben es weder Gauck noch Birthler geschafft, die Arbeitsverträge dieser Personen zu kündigen. Davon wolle er sich aber nicht unterkriegen lassen. Es könne nicht sein, dass mit der Verlängerung der Überprüfungsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst ehemalige inoffizielle Mitarbeiter (IM) entlassen, hauptamtliche Stasi-Leute aber weiter beschäftigt werden. "Ich werde mit Eifer einen rechtsstaatlichen Weg suchen, um diese Leute zu entlassen." Jahn spielte damit auf den innenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, an, der ihm "zu viel Eifer" vorgeworfen hatte. Es sei nicht Jahns Aufgabe, die ehemaligen Stasi-Leute "loszuwerden", meinte Wiefelspütz.

An diesem Abend in der Gedenkstätte wurden "zwei weitere Baustellen" erkennbar, um die sich Jahn kümmern will: die Zusammenarbeit mit Zeitzeugen und der Umgang mit Zellenspitzeln.

"Zeitzeugen sind unverzichtbar und unersetzbar", sagte der neue Bundesbeauftragte, weil sie Erlebnisse schilderten, die nur sie kennen. Je mehr authentische Berichte gegeben würden, um so deutlicher würden die Mechanismen der Diktatur sichtbar. Jahn sprach damit nicht nur Hubertus Knabe aus dem Herzen. Der Leiter der Gedenkstätte setzt seit zehn Jahren für Führungen durch das einstige Stasi-Gefängnis vornehmlich ehemalige Häftlinge ein. Das habe von Anfang an den Widerstand von Historikern hervorgerufen, beklagte sich Knabe. "Aber nichts ist überzeugender, als wenn bei der Führung gesagt werde: ,In dieser Zelle habe ich gesessen oder hier bin ich verhört worden‘", sagte Knabe und verteidigte vehement sein Konzept, das übrigens auf Vorschlag ehemaliger Häftlinge erarbeitet worden sei.

Ein riesiges Problem, so Knabe, habe sich im Zusammenhang mit Anträgen auf die SED-Opferpension aufgetan. Bei ehemaligen Häftlingen, die strafrechtlich rehabilitiert wurden und eine Haftentschädigung erhalten haben, seien mit der Überprüfung wegen der Opferrente Verpflichtungserklärungen für eine IM-Tätigkeit im Stasi-Knast aufgetaucht. Diese ehemaligen Häftlinge hätten daraufhin nicht nur keine Opferrente erhalten, sondern mussten auch die Haftentschädigung zurückzahlen.

Nach heutiger Erkenntnis haben, so Knabe, 25 bis 30 Prozent aller Inhaftierten als Zellenspitzel ihre Mitgefangenen ausgehorcht. "Ist es legitim, diese Verfolgten allein zu lassen und ihnen die Entschädigung zu entziehen?" Die Antwort wird kontrovers diskutiert. "IM ist nicht gleich IM", sagt Jahn. Eine differenzierte Betrachtung der Biografien sei notwendig. Das Nachdenken über "die Anpassung in der Diktatur" gehöre daher zu den Schwerpunkten seiner künftigen Arbeit. Denn sich unter Druck anzupassen oder zu widerstehen – diese Frage stelle sich jedem.

Die geschulten Psychologen der Stasi hätten viele Wege gekannt, Menschen in der Haft psychisch zu brechen und umzudrehen. Oft sei gedroht worden, den Ehepartner ebenfalls zu verhaften oder den Gefangenen der Gewalt krimineller Häftlinge auszusetzen. Nicht selten seien Häftlinge durch die Aussicht auf Hafterleichterungen oder baldige Entlassung für die Spitzeltätigkeit geködert worden.

Jahn selbst schilderte seine Erlebnisse im Knast: "In den letzten Tagen habe ich mich oft erinnert an alte Zeiten, Fotos angeschaut. Ein Bild aus dem Jahre 1983 zeigt meine Freundin Petra mit unserer Tochter. Lina ist damals 3 Jahre alt. Zart und zerbrechlich sehen sie aus. Petra ist 25, als sie verhaftet wird. Eingesperrt von der Staatssicherheit, weil sie Informationen über meine Inhaftierung an Freunde in West-Berlin übermittelte. Im Gefängnis erlebten wir die Stasi-Offiziere als geschulte Psychologen. Sie drohten, dass unser Kind ins Heim kommt, wenn wir nicht aussagen. Abends schalteten sie demonstrativ das Radio ein und zwangen Petra, den Abendgruß des Sandmanns zu hören – eine Kindersendung, die unsere Tochter liebte. Mir gaben sie Fotos von unserer Tochter und freuten sich, wie ich mit den Bildern weinend in der Zelle saß. In solchen Momenten war ich kurz vor dem Zusammenbruch und klammerte mich an die Hoffnung, dass es nicht ewig dauern kann. Den Stasi-Mitarbeitern sagte ich damals: "Eines verspreche ich euch, irgendwann komme ich hier raus und dann werde ich euren Kindern erzählen, was ihr hier getrieben habt." Als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen habe er dazu jetzt die besten Möglichkeiten.