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In Genf steht das größte Wissenschaftsinstrument aller Zeiten Teilchenbeschuss katapultiert Forschung in neue Dimension

04.05.2010, 07:43

Von Uwe Seidenfaden

Vor einem halben Jahrhundert rechnete der Physiknobelpreisträger Enrico Fermi mit dem Bau eines Teilchenbeschleunigers im Weltraum. Das mehrere Fußballfelder große Gerät sollte – in sicherer Distanz zur Erde – den Urknall simulieren, aus dem das bekannte Universum vor mehr als zwölf Milliarden Jahren hervorging. Das Projekt wurde bekanntlich nicht realisiert – technisch zu anspruchsvoll und viel zu teuer.

Statt im Weltall, bauten die Physiker einen 27 Kilometer großen Beschleunigerring bei Genf, 100 Meter unter der Erde. Vor wenigen Wochen begannen Wissenschaftler unter großer öffentlicher Anteilnahme mit den ersten Experimenten am sogenannten Large Hadron Collider (LHC). Es ist das größte Wissenschaftsinstrument aller Zeiten. Philosophische Maschinen nannte der Schweizer Schriftsteller Fried- rich Dürrenmatt die Teilchenbeschleuniger, weil sich Menschen davon die Beantwortung grundlegender Fragen der Existenz erhoffen: Warum existiert die Welt? Wie ist sie in ihrem Innersten beschaffen? Und wie wurde sie erschaffen?

In der Sprache der Physik klingt das weniger bombastisch: Es geht um die Suche nach Higgs-Feldern, die Berechung von Symmetrien oder einfach gesagt, um den Vorstoß in neue Erkenntniswelten. Die Mehrheit der Bevölkerung mag die mathematisch-physikalischen Theorien, die Grundlage für die Experimente am LHC sind, nicht verstehen.

Das tut der weitverbreiteten Faszination am intellektuellen Abenteuer der Moderne offensichtlich keinen Abbruch. Wie sonst ist zu erklären, dass die Bücher theoretischer Physiker wie Steven Hawking oder Brian Greene viele Jahre die Bestseller-Listen populärwissenschaftlicher Literatur anführten?

Angst vorm Riesenloch

Manchmal schürt das Ängste. Zwar wollen die meisten Teilchenphysiker genau das nicht. Andererseits sind es aber gerade diese Berichte, die für mehr öffentliche Aufmerksamkeit als jede Pressekampange sorgen. So war es vor sieben Jahren der Thriller "Illuminati" von Dan Brown, der mit einer Story um Antimaterie, die von Terroristen aus dem Genfer Teilchenlabor herausgeschmuggelt wird, für Furore sorgte.

Ähnliches wiederholte sich, als vor wenigen Wochen die ersten Teilchenkollisionen im LHC erfolgten. Diesmal hatten Berichte über die Erzeugung winziger Schwarzer Löcher für Aufregung gesorgt. Das sind hypothetische Objekte, die Steven Hawking mit seinem Büchern und Vorträgen populär machte. Theoretisch sollte die Möglichkeit bestehen, dass ein künstlich erzeugtes Schwarzes Loch die gesamte Erde verschlingt, meinten einige Wissenschaftler, die nicht mit dem LHC arbeiten konnten oder wollten. Vor drei Jahren nahm sich die BBC des Themas an und drehte eine Fernseh-Dokumentation über das vermeintliche Weltende. Die Doku schlug wie eine Bombe in die Medienwelt ein. Berichte über die Schwarzen Löcher aus Genf nahmen explosionsartig zu.

Das blieb nicht ohne Folgen. Besorgte Bürger in den USA und Deutschland klagten vor Gerichten, um den Weltuntergang zu verhindern. Eine in der Schweiz lebende Deutsche ging sogar bis vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Erfolglos. Wenige Wochen vor Beginn der Experimente lehnten die Richter die Verfassungsbeschwerde als unzulässig ab. Die Klägerin hatte nicht überzeugend darlegen können, dass "ihr Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" durch die Versuche im Teilchenforschungslabor verletzt werden könnte.

Kein Schuss nach hinten

Was wäre gewesen, hätte die Klägerin Recht erhalten? Es wäre zukünftig schwerer, wenngleich nicht unmöglich geworden, mehr über den Aufbau und den Beginn der Welt zu erfahren. Investitionen von über vier Milliarden Euro wären umsonst gewesen. Wissenschaftler in aller Welt hätten es als Votum gegen die Forschungsfreiheit empfunden.

Weltweit arbeiten über zehntausend Wissenschaftler an dem Großexperiment. Das sind nicht nur EU-Bürger, sondern auch Amerikaner, Russen, Brasilianer, Inder und Menschen vieler anderer Nationalitäten. Allein in Deutschland sind 19 Universitäten, zwei Max-Planck-Institute und die Großforschungszentren in Hamburg sowie Karlsruhe am LHC beteiligt. Sie alle können froh sein, dass die große öffentliche Aufmerksamkeit am Teilchenbeschuss nicht nach hinten losging.