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Für den ehemaligen PISA-Leiter Baumert ist es mit der Gemeinschaftsschule nicht getan Das bessere Schulsystem – eine Gretchenfrage ohne Antwort

Von Philipp Hoffmann 06.03.2010, 05:15

Z: Magdeburg ZS: MD PZ: Magdeburg PZS: MD Prio: höchste Priorität IssueDate: 05.03.2010 23:00:00


Wenn es eng wird für den Berliner Bildungsforscher Jürgen Baumert, dann setzt er einfach sein gewinnendes Lächeln auf, und schon verzeiht man ihm, dass er der unbequemen Frage ausweicht. Sogar bei der alles entscheidenden Frage, welches Schulsystem denn nun besser ist: das dreigliedrige mit Gymnasium, Real- und Hauptschule oder das nicht differenzierte, in dem alle Schüler bis zum ersten Schulabschluss nach neun, zehn Jahren zusammenbleiben.

Baumert, der am Donnerstagabend auf einem Forum der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin über soziale Ungleichheit und das Schulsystem sprach, nennt dies die "Gretchenfrage". Anlass ist in diesem Fall die Risikogruppe von 20 Prozent der Schüler, die Studien zufolge als 15-Jährige in Lesen und Rechnen kaum über Grundschulniveau hinauskommen und später praktisch keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Und es ist die Feststellung, dass in keinem anderen OECD-Staat der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz so hoch ist wie in Deutschland.

Wie Goethe in seinem "Faust" lässt auch Baumert die Gretchenfrage unbeantwortet. Lächelnd erklärt der Leiter der ersten PISA-Studie und Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, dass es keinerlei wissenschaftlichen Beleg für eine Überlegenheit des nicht differenzierten Systems gibt. Genauso wenig aber im Übrigen für die des gegliederten Systems.

Wissenschaftler durch und durch, bemüht sich der 68-Jährige um Neutralität in dieser Frage, die derzeit auch im Bildungskonvent in Sachsen-Anhalt hitzig diskutiert wird. Baumert war in dem Gremium, das eben wegen der polarisierenden Schulstrukturdebatte seit einem Dreivierteljahr die Öffentlichkeit meidet, im Dezember selbst mit einem Vortrag zu Gast. Den Gefallen einer Parteinahme tat der Erziehungswissenschaftler weder der einen noch der anderen Seite.

Im heimischen Berlin ließ sich Baumert nun zumindest zu einer klaren Botschaft hinreißen: Eine Gemeinschaftsschule bis Klasse 9 allein würde seiner Ansicht nach nichts am Schulsystem ändern. "Wenn man etwas ändern will, dann muss man am unteren Ende ansetzen", sagt er. Die systematische Förderung schwächerer Schüler müsse schon in der Grundschule deutlich verbessert werden.

"Schauen Sie sich einmal eine 1. Klasse an", sagt der Professor. "Dann wissen Sie, was Heterogenität ist." Abgesehen von Unterschieden in Größe und Gewicht, in motorischen und emotionalen Fähigkeiten, im Sozial- und Lernverhalten bringen Erstklässler auch vollkommen unterschiedliche fachliche Kompetenzen mit. Baumert zufolge gibt es allein in Mathematik Unterschiede, die zwei bis drei Schuljahren entsprechen.

Heterogenität, so der Wissenschaftler, sei in der Schule der Normalfall – nicht nur im Primarbereich. Er sieht sie als kontinuierliche Herausforderung, zumal sich soziale Unterschiede bis zum Ende der 10. Klasse vergrößerten. Die Herkunft begleite den Schüler, wenn auch die Wirkung mit zunehmendem Alter schwächer werde. Soziale Ungleichheit manifestiert sich laut Baumert nie so stark wie am Anfang. Deshalb fordert er, dort anzusetzen: "Das ist die wirksamste Maßnahme, das Problem der Risikogruppe zu mindern."

Die Kultusminister der Länder haben das Problem einer besseren Förderung im Blick. Ebenfalls am Donnerstag vereinbarten sie in Berlin, mehr für leistungsschwächere Schüler zu tun. Diesen soll mehr Lernzeit eingeräumt werden, damit sie ihre Kernkompetenzen sichern können. Die Minister halten zudem den Ausbau von Ganztagsangeboten an Schulen für geeignet, Bildungsbenachteiligungen abzubauen und mangelnde Unterstützung im Elternhaus auszugleichen.

Baumert ist trotz solcher Initiativen mit den Kultusministern unzufrieden. Aus seiner Sicht wird von ihnen die "Baustelle Lehrerbildung sträflich vernachlässigt". Der Bildungsforscher sieht in unterschiedlichen Kompetenzen der Lehrer den Hauptgrund für die enorme "Spreizkraft der Schulformen": Selbst bei gleichen Voraussetzungen entwickelten sich Schüler am Gymnasium ungleich besser als an anderen Schulformen. Baumerts Erklärung: "Gymnasiallehrer sind eine Liga besser."

Und noch etwas ärgert Baumert: dass man in Deutschland Begabungen immer als vollendet ansehe. "Begabung definiert sich in Interaktion mit der Umwelt", referiert er. Und dann lächelt er wieder so einnehmend, dass man ihm nicht widersprechen möchte.