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Zur Forderung Westerwelles nach einer Bundestagsdebatte über den Sozialstaat Jeder hat das Recht auf Hilfe, aber auch die Pflicht, zu helfen

16.02.2010, 12:33

Z: Magdeburg ZS: MD PZ: Magdeburg PZS: MD Prio: höchste Priorität IssueDate: 15.02.2010 23:00:00


Arbeitslosenhilfe hat mit "geistigem Sozialismus" ebenso wenig zu tun wie spätrömische Dekadenz mit dem Leben von Langzeitarbeitslosen. Was FDP-Chef Guido Westerwelle rhetorisch aufgeziegelt unters Volk gebracht hat, bietet reichlich Stoff für berechtigte Kritik, wenn auch mancher Kritiker nichts anderes betreibt als Wüterich Westerwelle. Nämlich verbale Schaumschlägerei.

Arbeitslose und ihre Familien sind in einer Notlage. Ihnen über diese Notzeit hinwegzuhelfen, ist ein Stück Solidarität. Die wiederum ist ein Grundpfeiler der sozialen Marktwirtschaft. Folglich sind weder Solidarität noch die Debatte über die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Veränderungen bei Hartz IV sozialistisch.

Man wird doch wohl noch fragen dürfen

Was also will Westerwelle mit dem Schlagwort "Sozialismus"? Den Markt heilig sprechen? Das wäre absurd. Denn was der entfesselte Markt anrichtet, ist in der Finanzkrise zu beobachten gewesen. Zu sehen war auch, dass die Großen der Finanzwelt ohne Steuergelder nicht mehr weiterkonnten. Und jetzt wird Westerwelle gern so verstanden, als wolle er den Kleinen die Staatsknete vorenthalten. Das ist zu einfach, wenn man in Rechnung stellt, dass die Kosten für steuerfinanzierte Sozialleistungen mit 177 Milliarden Euro weit über den Lohnsteuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden liegen. Da stellt sich die Frage, wohin all dieses Geld fließt, wie es wirkt, ob es sinnvoll eingesetzt wird und ob es der Chancengerechtigkeit dient oder Gruppen bevorteilt?

Wer solche Fragen stellt oder wer sagt, dass der Sozialstaat bezahlbar bleiben müsse, der diffamiert nicht Hartz-IV-Empfänger. Auch nicht jener, der verlangt, dass Arbeit sich deutlich besser auszahlen muss, als von Stütze zu leben. Es sind die leidigen Pauschalurteile, die all jene diffamieren, die Arbeit suchen und keine finden.

Nun hat Westerwelle eine Generaldebatte im Bundestag über den Sozialstaat gefordert. Sie könnte sinnvoll sein, wenn sie von Nachdenklichkeit geprägt wäre. Vom Nachdenken über unser Land.

Jeder, der sich im gegenwärtigen heftigen Streit zu Wort meldet, weiß, dass Arbeit den Sozialstaat erst möglich macht. Aber wenn der Arbeitsmarkt das nicht hergibt, kann man den Leuten nicht zurufen: Geht arbeiten. In Sachsen-Anhalt beispielsweise gibt es nur 12300 offene Stellen, aber 174000 Arbeitslose. In allen ostdeutschen Bundesländern ist die Lage ähnlich. Und wäre sie im Westen anders, hätten wir Vollbeschäftigung.

Dagegen blüht und gedeiht Schwarzarbeit. Es ist beispielsweise in der Baubranche oder in der Gastronomie durchaus lukrativ, auf diese Art Sozialabgaben und Steuern zu sparen sowie Löhne zu drücken. Gelegentlich kassiert auch mancher Langzeitarbeitsloser Stütze und schafft obendrein im schwarzen Sektor. Auf der faulen Haut jedenfalls liegt er dann nicht, aber er bringt dem Staat keine Lohnsteuer und enthält den Sozialkassen den Beitrag vor.

Etwas leisten zu dürfen, ist eine Chance

Auch deshalb sollte man laut fragen dürfen, warum jeder das Recht hat, Hilfe einzufordern, aber nicht die Pflicht, selber Hilfe für die Allgemeinheit zu leisten. Wer arbeitsfähig ist und öffentliche Stütze erhält, sollte etwas leisten dürfen. Ja, dürfen. Das ist nämlich nicht nur gut für das Selbstwertgefühl. Da gelten auch Regeln, ohne die ein Wiedereinstieg ins Arbeitsleben kaum möglich wird. Und wer eigene Regeln hat, kann sie seinen Kindern weitergeben. Die sagen dann nicht, dass sie "Hartz-IV werden" wollen.

Die wollen lernen. Und hier muss neben Geld auch Kraft und viel mehr Aufmerksamkeit investiert werden. Das ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, die kann man nicht jedem Bundesland allein überlassen. Ist es denn nicht schlimm genug, dass geschätzte 6,5 bis 11,2 Prozent aller Deutschen funktionale Analphabeten sind, also Menschen, die den Inhalt eines Textes nicht verstehen oder außerordentliche Mühe dafür aufwenden müssen.

Und wenn Westerwelle davon spricht, dass jene, die arbeiten, immer mehr zu den "Deppen der Nation" würden, klingt ein ungerechter pauschaler Vorwurf der Faulheit gegen alle anderen mit. Aber tatsächlich leben nur 40 Prozent der Deutschen von eigener Erwerbsarbeit. Sie finanzieren jene 60 Prozent, die nicht mehr arbeiten, die nie gearbeitet haben, die Arbeit suchen und keine bekommen. Das ist nicht nur eine demografische Falle, sondern auch eine politisch-bürokratische. Beispielsweise gibt es für jede Lebensphase eines Menschen und für jede Schwierigkeit eine behördliche Instanz. Die ist zuständig, der Mensch für sich selbst immer weniger.

Die Auswirkungen solch überbordender "Fürsorge" beschreibt Ernst Elitz in seinem Buch "Ich bleib denn mal hier" (Verlag C.H. Beck, München, 2009): "Es fehlt eine Stimmung, die Lust an Innovation und dauerhafter Veränderung befördert und den Bürger aus dem Geflecht von Zuständigkeiten befreit, die ihn ständig bemuttern und unmündig werden lassen. Viele sitzen im Wartesaal, weil es ihnen an Beharrlichkeit, Einfallsreichtum und Tatkraft mangelt und weil das staatliche Bildungssystem weder Leselust noch Lerneifer weckt."