Gastbeitrag zum Behinderten-Tag am 3. Dezember / Ärgernis Förderschulen in Sachsen-Anhalt Jobcenter sind Sammelbecken für Behinderte
Für mindestens eine halbe Milliarde Menschen, die mit einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung leben müssen, ist der 3. Dezember ein wichtiges Datum. Dieser Tag wird seit rund 20 Jahren auf UNO-Beschluss als Internationaler Tag der Menschen mit Behinderungen begangen.
Seit 2006 gibt es eine UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen, die Chancengleichheit in allen Lebensbereichen für sie fordert. In Deutschland, wo mehr als sieben Millionen Schwerbehinderte leben, gilt die Konvention seit dem März 2009.
Zentrale Begriffe der Konvention sind "Barrierefreiheit" und "Inklusion". Unter Barrierefreiheit kann sich inzwischen fast jeder etwas vorstellen. Inklusion bedeutet, in allen Lebensbereichen in vollem Umfang teilhaben zu können, einbezogen und akzeptiert zu sein, ungeachtet aller Besonderheiten des Einzelnen wie einer Behinderung. Im Bildungswesen heißt das beispielsweise, behinderten Schülern den uneingeschränkten Zugang zur allgemeinen Schule zu ermöglichen, statt sie in Sonderschulen zu schicken.
Wird die Realität diesem hohen Anspruch gerecht?
Glaubt man dem "Ersten Staatenbericht" für die Vereinten Nationen, den die Bundesregierung im August 2011 beschlossen hat, ist hierzulande für Menschen mit Behinderungen alles vortrefflich geregelt. Es gibt eine Vielzahl gesetzlicher Bestimmungen mit Bezug auf die Teilhabe und Rehabilitation behinderter Menschen. Seit 1994 steht sogar ein Satz über Behinderte im Grundgesetz...
Die alltägliche Praxis vieler Betroffener sieht weniger rosig aus. Sie und ihre Familien sind mit bürokratischen Hürden und realen Barrieren konfrontiert, wenn es um den Zugang zu benötigten Therapien, Heil- und Hilfsmitteln, zur Pflege, zum gemeinsamen Unterricht an Regelschulen, zum Arbeitsmarkt oder zu einer barrierefreien Wohnung geht.
Seit Hartz IV sind die Jobcenter die wichtigsten Anlaufstellen und Sammelbecken für viele behinderte Menschen geworden, die dort Dauerklienten ohne Aussicht auf Verbesserung oder adäquate Hilfen sind. Dies betrifft auch immer mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen und seelischen Behinderungen, die sich in den Maschen des SGB II dauerhaft verheddern. Von Inklusion kann man hier wohl kaum sprechen.
Die Lebenssituation vieler behinderter Menschen hat sich sogar real verschlechtert. So hat etwa die Bundesregierung still und leise bei der Hartz-IV-Reform zu Jahresbeginn, als die Regelsätze um sage und schreibe fünf Euro angehoben wurden, eine "Regelbedarfsstufe 3" eingeführt und den Anspruch von erwachsenen Kindern im Haushalt der Eltern von 364 auf 291 Euro gekürzt. Davon sind bundesweit Zehntausende Menschen mit Behinderungen betroffen, die von ihren Angehörigen gepflegt werden. Sie können nicht einfach einen eigenen Haushalt gründen.
Zusätzlich versuchen manche Kommunen im großen Stil, das Kindergeld für erwachsene behinderte Kinder "abzuzweigen", dass deren Eltern auch nach dem 25. Lebensjahr zusteht. Hier wäre eine klare Regelung durch den Gesetzgeber gefragt.
Ein anderes Ärgernis gibt es speziell in Sachsen-Anhalt, wo behinderte Kinder zumeist noch in Förderschulen "unter sich" sind. Für diese Schüler ist die Hort- und Ferienbetreuung nicht geklärt, obwohl ein Rechtsanspruch nach dem Kinderförderungsgesetz (KiFöG) besteht. Der Missstand besteht seit Jahr und Tag, ohne dass sich die zuständigen Ministerien (Kultus bzw. Soziales) auf eine Lösung verständigt hätten.
Auch Gehörlose und Blinde fragen sich, ob es der Teilhabe dient, dass sie ab 2013 Rundfunkbeiträge zahlen müssen, obwohl sie die Rundfunk-Angebote nicht oder nur teilweise nutzen können. Bisher waren sie deshalb von den Gebühren befreit. Insbesondere beim MDR finden sich kaum untertitelte Sendungen für Hörbehinderte, geschweige zusätzliche sprachliche Bildbeschreibungen für Blinde.
Die Liste solcher Negativbeispiele ließe sich fortsetzen.
Da eine Behinderung, chronische Krankheit, psychische Störung oder Altersdemenz aber jeden ereilen kann, sind Anstrengungen um Barrierefreiheit und Inklusion umso dringender. Angesichts einer alternden Gesellschaft und sich wandelnder familiärer und sozialer Bezüge wird praktisch jeder irgendwann auf möglichst inklusive, barrierefreie Verhältnisse angewiesen sein.
Hans-Peter Pischner ist Behindertenbeauftragter der Stadt Magdeburg.