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Eine Reportage von der Aktion in der Nacht zum Dienstag, bei der hunderte Helfer im Einsatz waren Grünewalde: Der Kampf gegen die Zeit am Deich

Von Anja Keßler 12.06.2013, 01:18

Ein durchweichter Deich in Grünewalde bringt Helfer und Einsatzleitung ins Schwitzen. Das Wasser sucht sich immer weiter seinen Weg. Aus 350 Metern werden schnell fast 800, die geschützt werden müssen. Ein massiver Einsatz von Mensch und Material beginnt.

Grünewalde l Plötzlich muss alles ganz schnell gehen. Gegen halb zehn am Abend läuft die Nachricht über den Ticker: Die Lage in Grünewalde hat sich massiv verschlechtert. Der Deich ist instabil. Noch am Montagnachmittag waren die mehr als 200 Feuerwehrleute zuversichtlich, dass sie ihr Tagwerk, welches sie um acht Uhr in der Früh begonnen hatten, zum Abend hin geschafft haben würden. Doch dann kam das Wasser aus immer mehr Stellen im Deich.

"Wir mussten von den ursprünglich 350 Metern noch je 200 Meter nach links und rechts ausweiten", erklärt ein erschöpfter Niklas Schäfers. Der Feuerwehrmann aus Paderborn hatte die Kommunikation mit den Medien übernommen. Die sind zahlreich vor Ort, als es am Abend dann zur Notlage am Deich kommt. Schäfers Kollegen aus Ostwestfalen ackern seit mehr als zwölf Stunden in Grünewalde. Sie bringen Sandsäcke zu den Kameraden, die unten am Deich darauf warten, die Säcke zu verbauen.

Zwischendrin in der Schubkarren-Perlenschnur sieht man bekannte Gesichter aus Grünewalde, Elbenau, Schönebeck, Frohse, Felgeleben und Bad Salzelmen. "Die Zivilisten lassen es sich nicht nehmen zu helfen", sagt Schäfers. Obwohl die offizielle Ansage lautet: Zivilisten raus. Zu gefährlich.

Trotz Augenringen, Schweißperlen, roten Augen, Schwielen an den Händen, sonnenverbrannten Armen - hier denkt keiner ans Aufhören. Aufgeben ist nicht.

Am Kreisverkehr in Grünewalde stauen sich Lkw, Kleintransporter, Multicars. Die Polizei kommt mit dem Einweisen kaum hinterher. Plötzlich kündigt sich die Bundeswehr an. Erst heißt es, 250 Mann kommen zur Unterstützung. Christian Jung, Flussbereichsleiter des Landesbetriebes für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft, der in der Volksstimme-Redaktion von der schwierigen Situation in Ostelbien erfuhr und sofort vor Ort raste, schüttelt den Kopf. "Warum denn jetzt Bundeswehr?" Die Einsatzleitung will im Hellen soweit kommen wie möglich, darum die Anforderung.

Doch schnell klärt sich: 25 Soldaten bringen auf neun Lkw Big Packs mit Sand. Auch sie sollen dem Weg, der dem Deichfuß bisher Stabilität gab und nun aufzubrechen droht, Last geben. Sie rücken von Elbenauer Seite an und bringen damit den Verkehr am Kreisel vorübergehend zum Erliegen. Im Hinterland warten 100 weitere Bundeswehrleute.

Die Helfer vor Ort reißen die Sandsäcke von den Fahrzeugen. Einweiser versuchen zu koordinieren, was noch geht. Für die Schubkarren werden Gassen freigeschlagen. Wer nicht mehr kann, ruht für Minuten aus, trinkt einen Schluck, nur um sich gleich wieder einzureihen.

Auf vier Dixieklos an der Elbenauer Straße klappern die Türen, manch einer nutzt auch einen abgelegenen Busch. Es muss halt schnell gehen.

Während die einen stapeln und laufen, müssen andere ihre Häuser verlassen. Bei ihnen ist die Haut dünn. Ein Grünewalder wartet mit seinem Auto seit mehreren Minuten am Kreisel. Plötzlich steigt er aus und wird laut: "Was ist denn nun hier? Müssen wir raus? Müssen wir?" Er brüllt zu uniformierten Helfern. Doch die zucken nur mit den Schultern. Sie wissen nicht, ob ein Zwang besteht oder nicht. "Warum geht es hier nicht weiter?" Die Stimme des Mannes überschlägt sich. Mehrere Polizisten kommen auf ihn zu. Dann geht es plötzlich weiter, der Kreisel ist frei zur Ausfahrt. Das Auto reiht sich in die Kolonne ein.

Doch auf der alten Elbebrücke staut sich der Verkehr immer wieder, es geht immer nur in eine Richtung. Die Fahrer von großen Lkw schimpfen: Ein Kleinwagen steht geparkt mitten auf der Brücke. Umständliches Drumherumkurven ist angesagt. Andere haben noch Zeit für ein Lächeln beim Warten. Ingo Ewald aus der Geschwister-Scholl-Straße sitzt mit zwei Freunden auf der Ladefläche seines Transporters, die mit Paletten voll Sandsäcken beladen ist. "Ich bin aus der akuten Bedrohung raus. Eine Firma hat uns ein Notstromaggregat zur Verfügung gestellt. Meinen sieben Kindern geht es gut, nur im Keller steht noch das Wasser." Er redet wie ein Wasserfall und sprudelt über vor Hilfsbereitschaft.

Inzwischen ist es halb elf. Die Polizei fährt auf Motorrädern die Brücke ab, schickt alle Fußgänger runter. Ein Trupp junger Leute macht sich auf in Richtung Grünewalde. Einer hat ein Klemmbrett unterm Arm. "Wir kommen vom Deichwachbüro", sagt Steffen Behm. "Die Wache ist gestrichen, wir sollen bei der Evakuierung helfen, von Haus zu Haus an die Türen klopfen." Auf das Brett werden die Namen derer notiert, die ihre Häuser nicht verlassen wollen. Anruf im Deichwachbüro: "Ja, Grünewalde, Elbenau und Ranies sind Sperrgebiet. Alle müssen raus", sagt Waldemar Liedicke, der die Nachtschicht hat. Kurz nach Mitternacht werden die Freiwilligen abgezogen, die DLRG übernimmt die Evakuierung und das Abklappern der Häuser. Bis vier Uhr wird deren Auftrag dauern.

Ein kurzer Fußweg zum Busbahnhof. Auf der Sandsackstelle, die am Vormittag geschlossen wurde, herrscht jetzt wieder großes Gewusel. Techno-Beats schallen über den Platz. Hunderte, vor allem junge Menschen füllen Säcke neu oder schütten den Sand aus den Plastiksäcken in Jute um. Nur die können in Grünewalde helfen. Die Plastiksäcke würden aufgetrieben und weggeschwemmt. Jute saugt sich voll. Die Stimmung unter den Helfern ist gut. Keiner murrt, dass es eine Nachtschicht wird. So schnell kann sich die Lage ändern. Aus "stabil" wird "instabil" wird "gebrochen". Doch daran will keiner denken. Statt dessen wird Sack um Sack gefüllt. Bis Mitternacht sollte der Einsatz in Grünewalde dauern. Dann heißt es von der Einsatzleitung: Deich vorerst gesichert. Jetzt darf keiner mehr rauf. Nur noch Wachen sichern ab und halten Schaulustige auf.