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  7. Wie kaltschnäuzige Soldatenbriefe der Kriegspropaganda dienten

Auch Redaktion der "Stadt- und Landzeitung Calbe" wählte sie für kreisweite Veröffentlichung aus Wie kaltschnäuzige Soldatenbriefe der Kriegspropaganda dienten

Von Dieter Horst Steinmetz 18.07.2014, 01:20

Vor 100 Jahren dehnte sich der Blitzkrieg zum industriellen Maschinenkrieg im Schützengraben aus. Die Kriegseuphorie wurde in der Calbenser Heimat mit abgedruckten Feldpostbriefen hoch gehalten, wie der dritte Teil der Serie zum Ersten Weltkrieg veranschaulicht.

Calbe l "Liebe Eltern, ich will Euch sagen, daß es hier ein richtiges Schlachten ist... Was denkt Ihr wohl, wenn sie uns loslassen, wir machen alles kaputt!" Das schrieb ein junger Unteroffizier aus Calbe in einem Feldpostbrief Anfang Oktober 1914.

"Das Haus explodierte und das Haus stand in Flammen, von der Hexe war nicht ein Stück wiederzufinden."

Die deutschen Soldaten waren bei ihrem völkerrechtswidrigen Vorstoß durch Belgien nach Nordfrankreich auf den bewaffneten Widerstand der Zivilbevölkerung gestoßen. Hier erlebten die Deutschen das, was man später den Partisanen- beziehungsweise Guerilla-Kampf nannte. Als der Unteroffizier und sein Trupp in ein Dorf gekommen waren, empfing sie Gewehrfeuer aus einigen Häusern. Der Truppführer erstach einen angreifenden Bauern in einem Hausflur mit dem Seitengewehr, und als eine bewaffnete Frau die Treppe herunter kam, warf er eine zuvor angezündete Sprengladung in das Haus.

"Die Sprengladung explodierte und das Haus stand in Flammen, von der Hexe war nicht ein Stück wieder zu finden. Das Schönste war, ich flog von dem großen Luftdruck auf einen danebenliegenden Misthaufen, aber ich habe den Humor nicht verloren. Dann haben wir aus einem anderen Hause ein Fass Wein und einen Schinken von 30 Pfund geholt, welchen wir in aller Gemütsruhe verzehrten. Ich kann Euch sagen, hier wird man so kalt, wenn man so´n Franzmann schnappen kann, so ist er verloren. Und vor uns Pionieren haben sie riesige Angst, wenn sie uns mit aufgepflanztem Seitengewehr kommen sehen, schmeißen sie die Gewehre von sich und rufen so laut sie können: ,Pardon Monsieur! Pardon Monsieur!´ (übersetzt: "Gnade, mein Herr!"). Wir sind eben dabei, uns ein Paar Kartoffelkuchen zu backen. Der eine hat einen Sack Mehl geklaut, der andere hat Öl usw., Wein die Menge. Die verbrannten Kuchen kriegen die französischen Kinder, die hier halbverhungert herumlaufen."

Nicht nur die betonte Kaltschnäuzigkeit des Briefes ist erschreckend, sondern auch die Tatsache, dass die Redaktion der "Stadt- und Landzeitung Calbe" ihn für eine kreisweite Veröffentlichung auswählte. Sollte dieser forsch-zynische Calbenser das Idealbild des deutschen Landsers sein?

Ein anderer martialischer "Schlagzu"-Brief von Anfang November 1914 handelte von der Beteiligung einiger Soldaten aus Calbe an der Vernichtung zweier französischer Reiterbrigaden. Acht deutsche Maschinengewehre waren dabei, die in die Falle geratenen französischen Reiter niederzumähen.

Daheimgebliene sollten Glauben an den Erfolg eines Blitzkrieges behalten.

"Wir sehen, wie sich Männer und Rosse im Blute wälzen, für den Feind ist kein Durchkommen. Er will zurück und den Weg über den Marne-Kanal nehmen, woher er gekommen ist. Doch der Weg ist von vier deutschen Maschinengewehren besetzt. Diese halten dazwischen und hören nicht auf, bis der letzte Mann vom Pferde sinkt. Die sich uns zuwandten, fielen unter den Schüssen unserer Karabiner. Das alles hat knapp eine Stunde gedauert. In dieser Spanne Zeit haben 3000 Feinde ihr Leben lassen müssen."

Das Zitieren solcher Feldpostbriefe gehörte zum propagandistischen Programm der deutschen Presse, auch der "Stadt- und Landzeitung" Calbe. Die Daheimgebliebenen sollten an den Blitzkrieg und an den unaufhaltsamen Vormarsch der draufgängerischen Deutschen glauben.

Soldaten aus Calbe galten als besonders tapfer und todesmutig, was sich in der Zahl der Auszeichnungen mit dem "Eisernen Kreuz" widerspiegelte. Doch um welchen Preis erhielten die wackeren Calbenser ihre ehrenvolle Auszeichnung? Ein Lehrer der Mädchen-Volksschule wurde am 26. August 1914 während der Vorstöße auf die Marne schwer verwundet. Die Folge davon war eine Rückenmarklähmung. In den Lazaretten in Calbe und Schönebeck versuchte man, sein Leiden zu lindern. "Ihm ist für tapferes und mutiges Verhalten vor dem Feinde das Eiserne Kreuz verliehen." Ein anderer der eingezogenen Lehrer aus Calbe wurde auch am 26. August schwer verwundet. Nach seiner Genesung kam er wieder an die Front nach Belgien, wo er einen Teil seines linken Kiefers, des linken Armes und der linken Hand verlor und schwere Schäden an der Hüfte und am linken Bein davontrug. "Auch er erhält für sein tapferes Verhalten das Eiserne Kreuz." - Ein Leben als Kriegskrüppel für ein Stück Eisen.

Mit dem siegreichen Einzug der Deutschen in Paris und Moskau vor Weihnachten wurde es aber nichts. Ihr Vormarsch kam im November 1914 mit Hilfe der mit den Franzosen verbündeten Engländer zum Stehen. Keiner der Soldaten ahnte, dass es so bis zum Sommer 1918 bleiben sollte. Die immer mehr befestigte Schützengraben-Frontlinie erstreckte sich im Westen von der Nordsee bis zu den Alpen. Nach anfänglichen deutschen Erfolgen gegen die schlecht ausgerüsteten Russen begann auch an der Ost-, Südwest- und Südostfront im Winter 1914/15 der Stellungskrieg, obwohl es dort zu mehreren großräumigen Durchbrüchen kam, die aber im Endeffekt keine generellen Landgewinne brachten. Anders als es sich die deutsche Generalität vorgestellt hatte, war das Russische Zarenreich unter Aufbietung riesiger Menschenmassen militärisch schnell aktiv geworden, so dass das Deutsche Reich schon Ende 1914 in der Falle des gefürchteten Zweifrontenkrieges steckte. England, Frankreich und Russland mit ihren kleineren Verbündeten ("Entente") und Deutschland und Österreich-Ungarn mit ihren Vasallen ("Mittelmächte") setzten nun auf die Vernichtung des jeweiligen Gegners durch Einsatz von modernster Kriegs-"Hightech" an den erstarrten Fronten und durch Blockaden zur Aushungerung der zivilen Bevölkerung. Die größeren Wirtschaftspotenziale und Vorräte an Kriegsmaterial sollten die Gegenseite niederringen. Die Zeit der Materialschlachten und der "Blutmühlen" begann. Mit Riesengeschützen, Maschinengewehren, Panzern, U-Booten, Flugzeugen, Flammenwerfern und Giftgas wetteiferte man um die höchsten Vernichtungsquoten.

Das "Niemandsland" zwischen den feindlichen Schützengräben war oft nur 50 Meter breit. Ein solches Stück Land sah gespenstisch aus - von Granaten durchfurcht und von verstümmelten Leichen bedeckt. Eine Bergung der Toten war fast unmöglich. So liegen auf dem Kriegerfriedhof in Calbe noch nicht einmal zehn Prozent der von hier stammenden Gefallenen. Meist waren es in den rückwärtigen Lazaretten Verstorbene.