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Zwischenfall im Herbst 1966 Junge Grenzer zahlen für Republikflucht hohen Preis

25 Jahre nach dem Mauerfall bleibt die Zahl der Opfer, die an der innerdeutschen Grenze ihr Leben verloren, unklar. Tragische Schicksale gibt es aber nicht nur auf Seiten der Flüchtigen, sondern auch bei Soldaten, die Menschen töteten, bewusst vorbeischossen oder gar nicht zur Waffe griffen.

Von Bernd-Uwe Meyer und Dennis Lotzmann 18.11.2014, 01:16

Dedeleben/Pabstorf l Nein, völlige Klarheit hat Gisela Westphal bis heute nicht. 48 Jahre nach den tragischen Ereignissen, die ihr Mann Jochen als junger DDR-Grenzsoldat erleben musste, hat die Pabstorferin zwar reichlich Aktenmaterial rund um die Vorfälle zusammengetragen - ein vollständiges Bild kann sich die 67-Jährige daraus jedoch längst noch nicht machen. Es bleiben zu viele weiße Flecke. Vermutlich könnte nur ihr Mann noch für Klarheit sorgen. Der aber war nach dem Grenzdurchbruch im Oktober 1966 von der Staatssicherheit zum Stillschweigen verdonnert worden und hat seine Geheimnisse mit ins Grab genommen. Eines aber scheint sicher: Soldat Jochen Westphal hat zusammen mit dem Gefreiten Wolfgang L. im Oktober 1966 an der Grenze bei Pabstorf zwei Menschenleben gerettet, indem er bei der Flucht zweier Jugendlicher wegschaute.

An jenem 9. Oktober 1966 schieben die beiden Wehrpflichtigen am "Grenzknick" nördlich von Pabstorf im Abschnitt der Grenzkompanie Dedeleben Dienst. Der kurz zuvor bei der "Vergatterung" eingebläute Befehl, Grenzverletzer mit allen Mitteln - notfalls auch mit Waffengewalt - zu stellen, ist allgegenwärtig. Doch die beiden 21 Jahre alten Grenzer hoffen, ihre Kalaschnikows auch heute nicht durchladen zu müssen. Eine Hoffnung, die sich zwar erfüllt - für ihre Befehlsverweigerung müssen beide aber später einen hohen Preis zahlen. Und - Ironie der Geschichte - am Ende sind es wahrscheinlich die beiden flüchtigen Jugendlichen und ihre Retter im Westen, die mit allzuviel Prahlerei die beiden Grenzer einige Wochen später ans Messer liefern werden.

"Alle Genossen fühlten sich schuldig."

Formulierung in der Anklageschrift

Anhand des Aktenmaterials und Unterlagen vom Militärgericht Magdeburg kann Gisela Westphal die Vorgänge jenes Herbstes teilweise rekonstruieren: Die Grenzer waren als Beobachtungsposten eingesetzt und nahmen "etwa gegen 17 Uhr Kontakt zu westdeutschen Personen auf", heißt es darin. Besonders fatal: Sie nahmen vom Klassenfeind Westzigaretten entgegen und ließen obendrein "einen Grenzdurchbruch von zwei männlichen Personen zu, obwohl sie diesen durch Anwendung der Schusswaffe hätten verhindern können", heißt es in der Anklageschrift.

So habe eine Frau durch die Sperranlagen hindurch gerufen: "Wollt ihr Zigaretten?" Dann soll die Frau in einem "Zellophanbeutel Zigaretten in den Großen Graben" geworfen haben, die der "Beschuldigte Westphal mit einem Zweig" rausfischte. Gefreiter L. habe beim Rauchen das Annähern einer Grenzstreife beobachtet. Beide, so die Militärstaatsanwälte, hätten sich von den Westdeutschen abgewandt und die Brücke verlassen, um Unteroffizier P. zu unterrichten.

Dann passierte es: "Plötzlich sichtete der Beschuldigte L. unterhalb der Böschung und ca. 60 Meter vor dem westlichen Gebiet zwei Personen." Beide Grenzer hätten keinen Warnschuss abgegeben und auch "kein gezieltes Feuer" eröffnet, ist in der Anklageschrift zu lesen. Und nicht nur die beiden Wehrpflichtigen versagten aus Sicht der Militärstaatsanwälte: Der Unteroffizier habe den Grenzdurchbruch durch sein "inkonsequentes und taktisch unkluges Verhalten" begünstigt.

Eine fatale Situation. Wohl fast jeder DDR-Grenzsoldat hoffte, einen solchen Moment, der immer wieder geübt wurde, nie zu erleben. Binnen Sekunden müssen Soldat Westphal, Gefreiter L. und Unteroffizier P. nun eine Entscheidung treffen. Als L. seine Waffe entsichern will, brüllen die westdeutschen Zigarettenspender und einige weitere Zeugen westseits des Zauns: "Wehe, wenn ihr schießt."

L. und die beiden anderen Soldaten zögern und ermöglichen so dem 15-jährigen Armin B. aus Ottleben und dem 17 Jahre alten Gerhard B. aus Hornhausen die Flucht in den Westen. Dort werden sie von Rettern unverletzt aus dem Großen Graben gezogen.

"Alle Genossen fühlten sich schuldig", heißt es in der Anklageschrift. Und: Als die Flüchtigen die letzten Sperranlagen überwunden hatten, vereinbarten die drei Grenzer, "das Vorkommnis nicht zu melden".

Ihr Plan, möglichst schnell Gras über den Zwischenfall wachsen zu lassen, geht zunächst auf. Das Trio schweigt, niemand in der Grenzkompanie Dedeleben ahnt was vom Zwischenfall und der Republikflucht. Allerdings haben die Drei nicht mit dem Mitteilungsbedürfnis der Westler und der Flüchtigen gerechnet. "Die berichteten Journalisten wenig später haarklein über die erfolgreiche Flucht und schaffen es so bis auf die Titelseite", berichtet ein Insider. Und diese Zeitung las - dank DDR-Kundschaftern im Westen - auch die Staatssicherheit.

Als Tage später die Chefs der Grenztruppen vom verschwiegenen Grenzdurchbruch Wind bekommen, toben sie vor Wut. Die diensthabenden Grenzer zu ermitteln, ist ein Leichtes. Der Rest ist Routine: Am 10. November 1966 beschließt das Militärgericht Magdeburg, gegen Westphal und L. ein Verfahren zu eröffnen. Unterzeichnet ist jener Beschluss von Knoche, Lambrecht und Mann, offenbar Richtern im militärischen Justizapparat.

Am Ende kommen Wolfgang L. und Jochen Westphal mit einem blauen Auge davon: Die Militärrichter verurteilen am 21. November 1966 den Angeklagten L. "wegen fortgesetzter Verletzung der Vorschriften über den Grenzdienst in Tateinheit mit Beihilfe zum illegalen Verlassen der Republik zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis" auf Bewährung. Westphal wird wegen fortgesetzter Verletzung der Vorschriften "zu zehn Monaten Gefängnis bedingt" verurteilt - seine Bewährungsfrist liegt bei zwei Jahren.

Ein aus Sicht von Beobachtern vergleichsweise mildes Urteil. Ist es vielleicht ein Hinweis darauf, dass die beiden Grenzer am Ende womöglich mit der Staatssicherheit kooperierten? Gisela Westphal weiß nicht, ob an derartigen Gerüchten etwas dran ist. Sowohl Wolfgang L. als auch ihr Mann leben nicht mehr. Was mit Unteroffizier P. passierte, ob er ebenfalls vor Gericht kam, ist unklar. Offen ist auch das Schicksal der beiden "Republikflüchtigen".

Gisela Westphal lebt seit 2011 wieder in Pabstorf. Nach dem damaligen Grenz-Vorfall sei ihr Mann, den sie 1968 im Nachbarort Schlanstedt heiratete, "auf einmal acht Wochen verschwunden und in Untersuchungshaft" gewesen. Aus der Armee wurde er im April 1967 entlassen." An die Schweigeverpflichtung der Stasi habe sich ihr Mann gehalten - "wir redeten nie über den Vorfall. Einem Cousin teilte mein Mann Jahre später mit, dass er mit kaltem Wasser gefügig gemacht wurde", berichtet Gisela Westphal. Nur soviel hat sie erfahren: Nach dem Urteil war er nicht mehr als Grenzsoldat tätig, sondern in der Kompanie als Heizer. Später arbeitete er in Gröbzig als Mechaniker und in ähnlichen Berufen.

"Einem Cousin teilte mein Mann mit, dass er mit kaltem Wasser gefügig gemacht wurde."

Gisela Westphal

Sie vermutet, dass ihr Mann Zeit seines Lebens unter den Erlebnissen an jenem 9. Oktober 1966 gelitten hat. "Er bekam schon bald größere persönliche Probleme, hat viel geraucht, gezittert und ist sehr verschlossen gewesen. Er bekam auch immer stärkere Alkoholprobleme", erinnert sich Gisela Westphal, die zu DDR-Zeiten als Köchin und Goldschmiedin gearbeitet hat und 1987 von ihrem Mann mit den beiden Kindern alleine gelassen wurde. "Das ist nicht einfach gewesen", betonte die gelernte Köchin, die zuletzt in Köthen ein Kino leitete.

Das Studium der Akten hat die 67-Jährige mitgenommen, es "war aber auch eine große Konfliktbewältigung". Auch wenn sie mit ihrem Mann nicht mehr über Details sprechen könne, sei es ihr wichtig, nun sicher zu wissen, dass er nicht zum Mörder geworden sei. "Weil ich glaube, dass nur noch sehr wenige von diesem Vorfall persönlich wissen und solche Schicksale auch zur ehemaligen Grenze dazugehören, gehe ich nun bewusst diesen Schritt in die Öffentlichkeit."