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Australischer Historiker forschte über Wolmirstedter Familie Mit der Puppe nach Australien

Von Gudrun Billowie 15.01.2011, 05:27

Die Welt ist ein Dorf. Spuren aus Australien führen zurück nach Wolmirstedt, Kinderspuren, die vor dem zweiten Weltkrieg gelegt wurden. Der australische Historiker Dr. Michael Abrahams-Sprod folgte ihnen und sprach am Donnerstag Abend in der Aula des Gymnasiums über seine Entdeckungen.

Wolmirstedt. Die ganze Sache ist wirklich ein bisschen verrückt. Am letzten Septembertag des vergangenen Jahres wurde der Gedenkstein des Jüdischen Friedhofs eingeweiht, initiiert von der Arbeitsgemeinschaft "Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage" unter der Leitung der Lehrerin Andrea Schlaugat. Im Rahmen dieser Veranstaltung tauchte das Foto einer großen Hochzeitsgesellschaft auf. Unter den Gästen weilte die jüdische Familie Hermann, eine der wenigen jüdischen Familien Wolmirstedts.

Andrea Schlaugat erfuhr, dass Otto und Regina Hermann in Auschwitz umkamen, die Tochter Inge-Ruth aber rechtzeitig nach Australien auswanderte. Anett Fett ist ebenfalls Lehrerin am Gymnasium und hat einen Ehemann, der an der Magdeburger Uni als Englischlehrer arbeitet. Und dieser Michael Fett übersetzte zu diesem Zeitpunkt gerade eine Doktorarbeit, die sich mit den Juden Magdeburgs beschäftigt. Auch die aus Wolmirstedt kommende Familie Hermann taucht darin auf. Autor dieser Arbeit ist der Australier Dr. Michael Abrahams-Sprod .

Wer Andrea Schlaugat kennt, weiß, sie wird diesen Mann nach Wolmirstedt einladen. Und natürlich, er kam. Der Historiker kannte Inge-Ruth Hermann persönlich. "Tulpen waren ihre Lieblingsblumen", verrät er.

Inge-Ruth Hermann wurde 1922 in Wolmirstedt geboren, ist 2008 in Australien gestorben. Da war sie 86 Jahre alt und somit der Lichtblick ihrer tieftraurigen Familiengeschichte. "Sie hat immer sehr lieb über ihre Zeit, über die Menschen in Wolmirstedt gesprochen", erzählt Dr. Abrahams-Sprod. Der Vater betrieb ein Bekleidungsgeschäft in der heutigen August-Bebel-Straße, außerdem ein Wollgeschäft in Magdeburg und war dort Teilhaber einer Schürzenfabrik. "Ab 1933 lief das Geschäft schlecht", recherchierte Dr. Abrahams-Sprod, "1935 verließ die Familie Wolmirstedt und zog nach Magdeburg." Otto Hermann wurde im Rahmen der Arisierung aus der Fabrik gedrängt, in Buchenwald eingesperrt, wieder frei gelassen mit der Auflage, Deutschland zu verlassen. Er hätte nach Shanghai emigrieren können, doch seine Frau durfte nicht. Er blieb. Inge-Ruth war damals 14 Jahre alt und ließ sich für die Ausreise registrieren. "Sie hätte 1936 nach Brasilien gehen können", weiß Dr. Abrahams-Sprod, "aber das war den Eltern zu weit." Zwei Jahre später ging ein Kindertransport nach Australien. Das war nicht näher, doch Inge war inzwischen 16 und die Eltern ließen sie ziehen. Ein schmerzlicher Abschied, gewiss, aber er rettete dem Mädchen das Leben.

Dr. Abrahams-Sprod zeigt ein Foto der Familie, aufgenommen zwei Wochen vor Inge-Ruths Abreise. Bedrückte Gesichter, kein Lächeln. Trotzdem, Inge-Ruth wird von der ganzen jüdischen Gemeinde verabschiedet, geht aufs Schiff. Sie trug ein Wörterbuch bei sich, ein Bild der Synagoge und ihre Porzellanpuppe. "Dinge, die man nicht unbedingt braucht", sagt Abrahams-Sprod, "aber sie sind die Heimat."

Inge-Ruth kommt in Australien an, allein, hat keine Sprache in diesem Land, keine Arbeit, ist als Deutsche die Feindin. Sie schreibt ihren Eltern, ihre Eltern schreiben zurück. Aus Theresienstadt, aus Auschwitz. Dr. Abrahams-Sprod verfügt über diesen Briefwechsel, zeigt ihn mit dem Beamer an der Wand. "Schauen Sie, wie normal diese Briefe klingen", sagt er, "Geburtstagsgrüße aus dem Konzentrationslager, Sätze über die Gesundheit."

So eine umfangreiche Briefsammlung ist selten, für Dr. Abrahams-Sprod ein Schatz. "Seit zehn Jahren geht in der Forschung die Tendenz zu Mikrostudien", sagt er, einzelne Familien rücken in den Fokus. Wie nah die Geschichte damit wird, zeigte die illustre Besucherschar in der Aula. Schüler waren da, aber nicht nur an diesem späten Nachmittag. Auch viele alte Wolmirstedter hatten den Weg ins Gymnasium gefunden.