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Landesmuseum untersucht Alltag der Menschen vor 5000 Jahren Steinzeit in Halle: Frauen und Kinder geopfert

Junge Frauen, erschlagen mit Äxten, bestattet mit wertvoller Keramik?
Aufgereihte Schädel in einem langen Graben? Mit diesen und anderen
Rätseln beschäftigt sich in Halle die Ausstellung "3300 BC".

Von Oliver Schlicht 20.11.2013, 02:08

Halle l Der Besucher hat kaum den Mantel an der Garderobe abgegeben, da wird er schon erschossen. Eine - ohne Übertreibung - sensationelle Installation: In der Haupthalle des Museums bilden 400 Pfeile einen Pfeilschwarm nach. Unsichtbar hängend an Angelseide, perfekt ausgerichtet. Jeder mit Feuersteinspitze und Feder. Wo auch immer der Besucher steht - er blickt direkt in eine der Spitzen.

Drei Wochen Arbeit stecken in diesem steinzeitlichen Schwarm. Er symbolisiert den Beginn der Machtkämpfe um Landbesitz und Siedlungsraum. 3300 vor der Zeit - als aus Jägern und Sammlern langsam Bauern und Viehzüchter wurden. Vor 11000 Jahren begannen Wanderungsbewegungen aus dem Vorderen Orient in Richtung Zentraleuropa. Um 3500 erreichten Bauern den mitteldeutschen Raum, wo dunkle Schwarzerde reiche Ernte versprach.

1921 wurde westlich von Halle bei Salzmünde auf einer Anhöhe eine jungsteinzeitliche Siedlung entdeckt. Menschliche Überreste, Keramiken, Pfeilspitzen wurden dort geborgen. Dann folgte der Kiesabbau für Halle-Neustadt. Erst 2005 konnten Archäologen vor dem Autobahnbau der A 143 dieses Siedlungsgebiet erneut in Augenschein nehmen. Drei Jahre lang arbeiteten auf der Anhöhe bis zu 12 Wissenschaftler und 110 Grabungshelfer.

Archäologe Torsten Schunke leitete die Ausgrabung. "Das Grabungsfeld war etwa 800 Meter lang und 500 Meter breit. Bereits in ein bis zwei Metern Tiefe ließen sich steinzeitliche Überreste nachweisen", erzählt er. Die Experten hielten nicht nur nach Knochen, Keramiken, Werkzeugen und Waffenüberbleibseln Ausschau. "Bodenverfärbungen geben zum Beispiel Auskunft darüber, wo Pfähle standen und verrottet sind." Die symmetrische Anordnung dieser Verfärbungen ließen Rückschlüsse auf die damals dort stehenden Holz- und Lehmbauten zu. Mehr noch: Sogar Fragmente von geritzten Innenwänden, an denen der Lehm befestigt wurde, konnten geborgen werden.

Dutzende Gruben mit Skelettresten

Die interessantesten Funde aus Sicht des Grabungsleiters waren aber dutzende Gruben mit Skelettresten. Schunke: "Die Anlage der Gruben gibt viele Rätsel auf. Wir gehen heute davon aus, dass Salzmünde ein Ritualplatz war, wo Menschen zu Tode gekommen sind."

Die Ausstellung in Halle kann und will die Todesumstände der Steinzeitmenschen aus Salzmünde nicht abschließend klären. "Aber uns stehen heute ganz andere wissenschaftliche Werkzeuge als den Kollegen in den 1930er Jahren zur Verfügung, um die Todesumstände näher zu beleuchten", so der Archäologe. Gemeint sind zum Beispiel Alterbestimmungen von Materialien, genetische Knochenuntersuchungen, die Verwandschaftsgrade klären helfen. Und natürlich kriminaltechnische Ermittlungen zu Verletzungen und Todesursachen. Viele Ergebnisse der Forschung zu den Ausgrabungen sprechen für Ritualmorde, ja sogar Menschenopfer halten die Experten für wahrscheinlich.

Ein ganz besonders imposantes Beispiel für diese These stellt eine geborgene Neunfachbestattung dar, deren konservierte Überreste in der Ausstellung zu sehen sind. Vier Frauen und fünf Kinder liegen dort, jeweils in Paaren einander zugewandt. "Alle Toten zeigen Brandspuren", erzählt Kuratorin Anja Stadelbacher. Die Opfer eines Feuerunglücks? Die Expertin glaubt das nicht. "Bei einem Kind gibt es Verletzungen am Schädel, die auf einen gewaltsamen Tod hindeuten. Die anderen könnten auch erwürgt worden sein." Auf einen Ritualmord deutet die Art der Bestattung hin. Stadelbacher: "Viele einzelne Knochen, große Mengen wertvoller Keramik, die bewusst zerschlagen und im Grab deponiert wurden." Vielleicht war es einfach Scherbenmüll? "Nein, wir konnten die Schlagstellen an den Gefäßen genau nachweisen."

Die Ausstellung zeigt noch andere mysteriöse Geschichten. Zum Beispiel eine junge Frau, die ganz offensichtlich ein Martyrium an Schlägen und Verletzungen hinter sich hatte und schließlich gewaltsam zu Tode kam. Sie erhielt ebenfalls ein Ritualgrab. Das natürliche Gesicht dieser Frau wurde von Kriminaltechnikern rekonstruiert.

Absonderlich: In einem langen Graben fanden die Archäologen sorgsam in Reihe platzierte Schädel. Stadelbacher: "Wir vermuten, dass dies mitgebrachte Ahnenschädel einer eingewanderten Gruppe war, die aus dem Norden kam und die ursprünglichen Siedler in Salzmünde vertrieben hat." Die Schädel im Graben, der den Siedlungshügel umgibt, sollten vermutlich eine spirituelle Schutzfunktion erfüllen.

Auf mehrere Arten gleichzeitig getötet

Die Ausstellung zeigt auch Skelette von Menschen, die ganz offensichtlich auf mehrere Arten gleichzeitig getötet wurden - die Pfeilspitzen fanden sich noch zwischen den Knochen, die Schädel zertrümmert. Zwei große Ritualgräber hängen vertikal in der Haupthalle unweit des Pfeilschwarms. Ochsen wurden mit den dazugehörigen Karren gemeinsam begraben - auch hier weisen die Erdverfärbungen darauf hin, wo genau die Räder der Karren im Erdreich lagen.

"3300 BC" erzählt nicht nur von Tod und Verderben. Der Alltag der Menschen vor 5000 Jahren wird erlebbar. Viele Leihgaben anderer Museen schaffen einen abwechslungsreichen Überblick, wie innovativ und erfindungsreich diese Zeit war.

Trockene Wissensvermittlung ist die Sache der Hallenser Ausstellungsmacher noch nie gewesen. Sie setzen auch diesmal auf die Kraft der sinnlichen Wahrnehmung. So kann sich der Besucher Ötzi, der Mann vom Hauslabjoch und populärsten Zeitgenossen der Salzmünder, lebensgroß in einem hochaufgelöstem Bild betrachten. Apropos Bild: Der über Halle hinaus bekannte Ausstellungsmaler Karol Schauer hat wieder einmal ganze Arbeit geleistet. An den wundervollen Steinzeit-Impressionen kann man sich nur schwer sattsehen.

Vor allem gilt das für Kinder. Ein Ausflug in das Landesmuseum sollte in den nächsten Monaten für Schulklassen ein Pflichtprogramm sein. Für alle anderen gilt: Halle ist natürlich immer eine Reise Wert ...