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Magdeburger Uniklinik für Herz- und Thoraxchirurgie Herzchirurgie: Die Multi-Kulti-Lebensretter

Viele Ausländer in Deutschland? Na, ein Glück: Am Uniklinikum retten sie
täglich das Leben von Patienten. Besonders bunt gemischt sind die
Nationalitäten in der Herzchirurgie. Ein Tag dort ist wie eine Weltreise
- randvoll gefüllt mit Geschichten vom Ankommen zu Hause in
Sachsen-Anhalt.

Von Oliver Schlicht 20.01.2015, 02:16

Magdeburg l Sieben Uhr früh in der Klinik für Herz- und Thoraxchirurgie. Draußen Dunkelheit, drinnen im Neonlicht beginnt der tägliche Wettlauf gegen die Uhr. Visite auf der Intensivstation. Ein Pulk aus 14 Ärzten, Schwestern und Studenten drängelt sich über den Flur von Krankenzimmer zu Krankenzimmer. Gespräche am Bett. Jeder Patient ein Schicksal. Hoffnungsvoll schauen sie, manche auch ängstlich. Infarkt, Bypass, Lungenkrebs - hier ist die Frage von Leben und Tod keine Floskel.

7.50 Uhr. Ein greller Ton. Oberarzt Dr. Henning Busk schaut auf seinen Pieper und verlässt die Visite. Er telefoniert, nickt, wählt eine neue Nummer, gibt Anweisungen für den OP-Saal. Ein Notfall ist unterwegs. Busk: "Eine Frau aus Olvenstedt. Flüssigkeit drückt auf das Herz. Das muss schnell gehen."

Vier Herzoperationen, darunter eine Kunstherz-Verpflanzung, eine Herzklappen-, zwei Bypassoperationen, eine Schrittmacher-OP und zwei Lungen-Eingriffe standen heute bereits auf dem Plan. Alles mehrstündige Eingriffe. Nun noch eine Herz-OP mehr. Drei Stunden später wird Dr. Busk im OP-Saal auf das schlagende Herz der 63-jährigen Olvenstedterin blicken und entscheiden, was zu tun ist.

Lange Zeit für Vorbereitungen bleibt ihm nicht. "Herzchirurgen sind die Formel-1-Fahrer unter den Ärzten. Bis wann der Arbeitstag dauert, wissen wir häufig erst am Abend", sagt der 52-Jährige. Jedermanns Sache sei das nicht. Seine Sache schon: "Das Herz hat etwas Mystisches. Es still stehen zu lassen und wieder zu wecken und Leben zu schenken, berührt mich auch nach vielen Berufsjahren noch."

Henning Busk wurde in Reykjavik auf Island geboren - und ist als Ausländer keine Ausnahme an der Herzchirurgie. Von 22 Ärzten haben 14 Ärzte fremde Wurzeln, also fast zwei Drittel. Busk kam schon Mitte der 1990er Jahre nach Magdeburg. Er ist der dienstälteste Herzchirurg in der Klinik. Der Mediziner war nach dem Studium im hessischen Gießen in Deutschland geblieben. Vater Isländer, Mutter eine deutsche Schlesierin. Die Eltern lernten sich in Ägypten kennen.

Dass Magdeburg seine Heimat wurde, hat auch mit Handball zu tun. Sein Sohn hat lange Zeit aktiv Handball gespielt. "Olafur Stefansson hat sich bei mir über die Stadt erkundigt, bevor er 1998 zum SCM wechselte", erzählt er nicht ohne Stolz. Mit Ex-Trainer Alfred Gislason ist der Arzt bis heute in Kontakt.

Die Zahl der Magdeburger Isländer ist wohl eher ein- als zweistellig. In der Klinik ist Busk trotzdem kein "Exot". Hier arbeiten auch Ärzte aus Russland, Armenien, Georgien, Syrien, Ägypten und Afghanistan. Bewerben sich zu wenig deutsche Herzchirurgen am Magdeburger Klinikum?

Für den hohen Ausländeranteil in diesem Fachbereich gibt es - bundesweit - viele Gründe, erzählen die Ärzte: Keine wirklich geregelte Arbeitszeit, viel Stress, viel Verantwortung und ein eher durchschnittlicher Verdienst als Klinikarzt. Denn auch die Karriere-Aussichten sind begrenzt. Bundesweit gibt es nur knapp 80 Kliniken und Zentren, die Herzchirurgen einstellen. Entsprechend gering ist die Anzahl von Chefarzt- und Oberarzt-Stellen. Kleinere Krankenhäuser operieren nicht am Herzen. Eine Niederlassung als freier Herzchirurg ist wegen des großen technischen Aufwandes der Operationen nicht möglich.

Also suchen sich viele deutsche Mediziner andere Arbeitsgebiete. In die Lücken an deutschen Kliniken stoßen ausländische Mediziner. So wie Oberarzt Dr. Mohammad Fadel aus Syrien.

12 Uhr. Zwischen zwei Operationen ist kurz Zeit für ein Gespräch. "Ursprünglich wollte ich nach England, meinen Facharzt machen, um dann wieder nach Syrien zurückzukehren." Sechs Jahre habe er zuvor im Libanon gelebt und gearbeitet. "In Syrien erzählten viele Bekannte aber nur Gutes von Deutschland. So bin ich schließlich in Bad Oeynhausen in Nordrhein-Westfalen gelandet." Und da wollte er auch schnell wieder weg. "Eine riesige Klinik und ein kleiner Ort mit nur einer Tankstelle", erzählt er lächelnd.

Seiner Schwester und ihrer Familie folgte er schließlich nach Magdeburg. Und hat es nicht bereut. Der Arzt lebt mit Ehefrau Zakia, Sohn Ali (5) und Tochter Julia (11) in der Stadt. Sprechen die Kinder gut Deutsch? Der Oberarzt schmunzelt: "Die Frage muss eher lauten, ob sie Arabisch sprechen." Die Familie hat viele Freunde. Bei HSV Medizin spielt Oberarzt Fadel Tischtennis. "Wir wollen nicht mehr weg", sagt der gebürtige Syrier, der seit 2010 die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt.

Wirklich abenteuerliche Haken hat die afghanische Familie Baraki geschlagen, bevor ihre Tochter Hassina in Magdeburg zur bereichsleitenden Oberärztin für Herzchirurgie aufgestiegen ist. "1978 ist meine Familie zur Pilgerfahrt nach Mekka in Saudi-Arabien aufgebrochen. Da war ich vier Jahre alt. Und dann sind die Sowjets in Afghanistan einmarschiert", erzählt sie. So wurde aus der Vier-Wochen-Pilgerfahrt ein mehrjähriges Exil.

1987 kam die Flüchtlingsfamilie nach Deutschland. Sechs Kinder. Baraki: "Geld kann man verlieren, sagte mein Vater. Aber nicht die Klugheit im Kopf. Er wollte, dass wir alle studieren." Die junge Afghanin studierte Medizin in Göttingen und arbeitete dann in Hannover, seit 2013 lebt und arbeitet sie in Magdeburg. "Der Traum meines Vaters ist wahr geworden. Seine vier Söhne wurden Ingenieure, seine zwei Töchter Ärztinnen", erzählt die selbstbewusste Oberärztin. Nun muss sie nur noch ihren deutschen Freund nach Magdeburg holen. Der studiert noch in Hannover Medizin.

13 Uhr, Krankenstation Thoraxchirurgie. Am Krankenbett von Hannelore W. aus Magdeburg spricht Fachärztin Geehan Tawab der 72-Jährigen mit ruhiger Stimme Mut zu. Die Patientin schaut freundlich, aber die Sorgen stehen ihr ins Gesicht geschrieben. "Ich habe Lungenkrebs. Von heute auf morgen. Dabei habe ich immer gesund gelebt, Sport getrieben", erzählt sie und blickt zum Fenster hinaus. Bald wird sie operiert. Tawab drückt ihre Hand und geht ins nächste Krankenzimmer.

Die in Ägypten geborene Ärztin trägt ein Kopftuch. Die Muslimin ist verheiratet mit einem Diplomaten, zwei Kinder hat das Paar. Ihr Mann kümmert sich derzeit zu Hause um die beiden elf und acht Jahre alten Söhne. "Wir wollen irgendwann wieder nach Ägypten", erzählt die Ärztin. Aber wann und ob das passiert, sei unklar.

Geehan Tawab spricht wie alle ihre ausländischen Kollegen fast perfekt Deutsch. "Das ist schon wichtig, damit man alle Fragen beantwortet bekommt", sagt Patientin Monika Rasche. Sie laboriert schon lange nach einer Operation an einer nicht heilenden Wunde. Die Ärztin erklärt ihr die nächsten Behandlungsschritte, dann setzt sie ihren Rundgang fort.

Die Station verlässt mit eiligen Schritten gerade der zuständige leitende Thoraxchirurg: Oberarzt Dr. Patrick Zardo. Ein Italiener. "Und ein Fan von Inter Mailand", erzählt er auf dem Weg über lange Flure in den Operationssaal. Der Arzt hat gute Laune. Lukas Podolski hat tags zuvor bei Inter das erste Mal durchgespielt. "Und er hat gut gespielt!" Sein Vater, ein italienischer Bankier, lernte seine Mutter, Lufthansa-Stewardess, über Hongkong kennen. Zardo lebte mit seinen Eltern in Venezuela, Belgien und Italien. Studiert und gearbeitet hat er zunächst in Hannover, bereichsleitender Oberarzt wurde er in Magdeburg 2013.

14.30 Uhr. Umkleideschleuse Operationssaal. Ein Herzchirurg, 52 Jahre, trägt eine Stützstrumpfhose. "Das ist wegen der Krampfadern in den Beinen. Kommt vom langen Stehen nach den vielen Jahren im OP-Saal. Trage ich die Strümpfe nicht, sammelt sich Wasser in meinen Beinen."

16.30 Uhr. 20 Minuten Zeit für die Herzkatheter-Konferenz. Nebenan ist Tumor-Konferenz. Im abgedunkelten Raum sitzen sechs Ärzte und besprechen die Operationen der nächsten Tage. Ein Beamer wirft kleine Videos von pulsierenden Herz-Arterien an die Wand. Akten gehen von Hand zu Hand. Drei Kollegen sind aus der Kardiologie her- übergekommen: Ein Bulgare, ein Albaner und ein Schönebecker.

18 Uhr, zwei Stunden vor Feierabend. Klinikdirektor Prof. Dr. Ingo Kutschka schaut am Schreibtisch Briefe durch. Auch er stand heute stundenlang im OP-Saal, unter anderem bei der Kunstherzoperation. Kutschka ist ein gebürtiger Bayer, der im Herbst 2013 aus Hannover nach Magdeburg gewechselt ist. Die Nascherei auf dem Teller seines Konferenztisches kommt aus dem vorderen Orient. "Ohne die Ärzte mit ausländischen Wurzeln wäre die Arbeit für mich hier nicht vorstellbar", sagt er. Das Klima unter allen Ärzten sei erstklassig. "Was im Übrigen auch mit der sehr guten Arbeit des überwiegend deutschen Pflegepersonals zu tun hat."

Ingo Kutschka hat noch viel vor in der Herzchirurgie am Uniklinikum. Neue, moderne Operationsverfahren, die es so in Magdeburg bislang noch nicht gab. "Die unterschiedliche Herkunft und Erfahrung der Kollegen ist für diesen Prozess eine wichtige Inspirationsquelle", sagt der Direktor.