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Brocken ohne Personal Die Technik ersetzt die Wetterfrösche

Der Deutsche Wetterdienst will bis 2021 alle 33 Wetterwarten auf automatischen Betrieb umstellen. Trotz Rückschlag in den Alpen vor zwei Jahren soll die Technik selbst dem Islandklima auf dem Brocken standhalten. Wetterwart Ingo Nitschke ist skeptisch.

Von Nadin Hänsch 26.02.2015, 02:17

Magdeburg l Touristen stapfen die letzten Meter bis zum Bergplateau hinauf. Aus der Ferne hört man das Zischen einer Lokomotive. Die Luft ist neblig und die Silhouette des großen in Weiß gehüllten Turms lässt sich nur erahnen. Es ist kalt genug, um den eigenen Atem sehen zu können.

Heute sind es minus sieben Grad bei einer Sichtweite von unter 30 Metern. "Ein gutes Wetter", findet Ingo Nitschke, der die Tür per Knopfdruck öffnet. "Bitte kommen Sie in die obere Etage", klingt es aus der Freisprechanlage. Es sind 85 Stufen, die sich auf vier Stockwerke verteilen. Der 53-Jährige geht sie in einer Schicht bis zu zwölfmal hoch und runter.

Ingo Nitschke ist Wetterdiensttechniker auf der Brockenwarte. "Es liegt bei unserer Familie im Blut, das mit dem Wetter", sagt er und setzt sich nach einem festen Händedruck wieder auf den Bürostuhl an seinen Arbeitsplatz. Im Zimmer stehen zwei Schreibtische mit Monitoren, auf denen Kurven und Diagramme abgebildet sind. In den Regalen stehen keine Akten, sondern Hunderte Froschfiguren aus indischem Speckstein, chinesischer Jade, Porzellan und Kunststoff. Einer wurde sogar aus einer Pinie geschnitzt. "Über die Jahre haben meine Kollegen und ich die Sammlung mit über 1000 Exemplaren aufgebaut", sagt Ingo Nitschke.

Die Zukunft der "Wetterfrösche" ist in Gefahr, denn aus der Zentrale des Deutschen Wetterdienstes (DWD) in Offenbach kommen keine guten Nachrichten. Pressesprecher Uwe Kirsche: "Der DWD wird die Messungen bis 2021 bundesweit voll automatisieren". Die 19 Wetterbeobachter in Sachsen-Anhalt, zu denen auch die sieben Mitarbeiter in der Brockenwarte gehören, werden durch Technik ersetzt. Entlassungen stehen nicht an. "Wir haben das Ziel, die Kollegen aus den Wetterwarten mit anderen Aufgaben zu betrauen", sagt Kirsche. Das bedeutet, sie werden versetzt, vielleicht weit weg von ihren Familien, weit weg von Schierke im Harz.

Das Spiel der Naturgewalten beobachtet Ingo Nitschke auf dem "Berg der Extreme", wie ihn die Kollegen gerne nennen, schon sehr lange. "Fast auf den Tag genau arbeite ich nun 35 Jahre hier oben." Er ist in die Fußstapfen seines Vaters Maximilian Nitschke getreten, der seit 1956 33 Jahre lang als Wetterbeobachter auf dem Brocken arbeitete. Seine Mutter Inge war dort auch in den 1950er Jahren festangestellt. Bei den Nitschkes drehte sich alles um das Wetter. Besonders ernst habe es der Vater damit genommen. Er betreute noch mit 85 Jahren eine Klimastation im Nebenamt für den DWD - bis zum letzten Atemzug. Er starb 2006 während seiner Arbeit.

Im Herbst soll das 120-jährige Bestehen der Wetterwarte gefeiert werden. "Ein schönes Jubiläum", wie Ingo Nitschke findet. Ein Grund zum Feiern, oder nicht?

"Der Versuch, die Wetterstation auf dem Wendelstein in den Alpen auf automatischen Betrieb umzurüsten, ist bereits vor zwei Jahren misslungen", sagt Kirsche. Die Wetterex- treme in den Alpen hätten die Pläne zurückgeworfen. Dort gibt es allerdings keine Straße, über die die Anlage von Technikern unkompliziert erreicht werden könne. Anders als in den Alpen sei der DWD gegen die Vereisung auf dem Brocken gewappnet: "Unsere Messtechnik ist auch im Hochgebirge einsetzbar", erklärt Kirsche. Beispielsweise werde auf bewegliche Teile an den Sensoren verzichtet. "Auf dem Brocken gibt es auch beheizte Niederschlagsmesser", sagt Kirsche. Sollte doch mal ein Messgerät der Vereisung zum Opfer fallen, wäre es kein Problem, einen Techniker hochzuschicken.

Zu den Kritikern der DWD-Pläne gehört ARD-Wetter-Moderator Karsten Schwanke: "Die neuen Messwerte sind nicht eins zu eins mit älteren Daten vergleichbar. Allein dadurch entsteht beispielsweise für Aussagen zur Klimaveränderung ein Qualitätsverlust." Aus wissenschaftlicher Sicht sei es immer problematisch, wenn langjährige, kontinuierliche Messreihen verändert werden. "Auch für die Wetterberichte in den Medien gehen uns Daten verloren - trotz modernster automatischer Messgeräte", sagt Schwanke. So könne etwa die Schneehöhe nicht genau genug gemessen werden, gerade auf einem sturmumtosten Berg wie dem Brocken. "Und bei Niederschlägen um null Grad fällt es den Automaten sehr schwer, Schnee, Regen oder den gefährlichen gefrierenden Regen zu unterscheiden", so Schwanke.

Eine vollautomatisierte Wetterstation - schwer vorstellbar auch für Ingo Nitschke: "Ich arbeite auf der stürmischsten Wetterstation Deutschlands mit Islandklima". Mit der Vereisung auf dem Brocken haben nicht nur die Technik, sondern auch die Wetterbeobachter täglich zu kämpfen.

Es ist wieder soweit. Jede halbe Stunde wird eine Meldung erstellt. Dazu werden die Wetterdaten in den Computer eingegeben und als Zahlencode per Modem nach Offenbach an die Zentrale geschickt. Stündlich heißt es, in die dicken Wintersachen schlüpfen, um die Messungen der Sensoren auf dem Dach und rings um die Station zu überprüfen. Es geht wieder die Treppen hoch. Denn auf dem Dach beginnt er mit seinen Beobachtungen.

In Deutschland gibt es noch 33 Wetterwarten, die rund um die Uhr mit hauptamtlichen Mitarbeitern besetzt sind. In Sachsen-Anhalt sind es drei - auf dem Brocken, in Magdeburg und in Seehausen/Altmark. Magdeburg wird ab 2017 und Seehausen ab 2018 voll auf Technik umgestellt. Alle Stationen sind mit einem einheitlichen Messsystem ausgestattet und über das Intranet mit der DWD-Zentrale in Offenbach verbunden. Die Daten können von dort abgerufen werden.

Derzeit gehören zu den Aufgaben der Mitarbeiter neben einer Kontrolle der Messdaten vor allem die Augenbeobachtungen wie Wolkenart oder Art des Niederschlags. "Also Daten, die zurzeit durch Sensoren nicht oder nur mit erheblichem Aufwand ermittelt werden können", sagt Wolfgang Gatzki, Systemverantwortlicher des DWD in Potsdam. Die Brockenwarte habe aufgrund ihrer Lage spezielle klimatologische Bedingungen, die den automatischen Betrieb der Sensoren negativ beeinflussen könnten, gesteht der Systemverantwortliche. Trotzdem soll es bald keine Wetterbeobachter mehr geben. Grund sei der Sparkurs in der öffentlichen Verwaltung, erklärt Kirsche. Der DWD ist eine Einrichtung des Bundes.

Vom rauen Klima draußen sieht man Ingo Nitschke nach einer halben Stunde bis auf die leicht roten Wangen nichts mehr an. Er sitzt wieder an seinem Schreibtisch vor den Monitoren, die Winterstiefel gegen Hausschuhe getauscht und eine wärmende Tasse Tee in der Hand. Die Welt ist für ihn in Ordnung. Noch.