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Interview mit Grünen-Fraktionschefin Claudia Dalbert über den Wiedereinzug ihrer Partei in den Landtag, Gesetzesvorhaben und Diäten " ... man hört eine vielstimmige Kakophonie"

17.04.2012, 03:19

Nach 13 Jahren sind die Grünen im vergangenen Jahr wieder in den Landtag eingezogen. Im Volksstimme-Interview zieht Fraktionschefin Claudia Dalbert ein Jahr nach der Wahl eine Zwischenbilanz. Mit ihr sprachen die Redakteure Jens Schmidt und Andreas Stein.

Volksstimme: Nach 13 Jahren außerparlamentarischer Opposition sind Bündnis 90/Die Grünen seit einem Jahr wieder im Landtag vertreten. Was lief gut, was schlecht?

Claudia Dalbert: Es war ein spannendes Jahr. Wir hatten anfangs weder Räume noch Angestellte, haben aber gleich einen guten Start hingelegt und unsere grüne Handschrift in die Landespolitik gebracht. Negativ aufgefallen ist uns die Auffassung einiger Abgeordneter der anderen Fraktionen zur Parlamentsarbeit. Es kann nicht sein, dass bei Landtagssitzungen 80 Prozent einer Fraktion nicht anwesend sind. In den Ausschusssitzungen sollte eigentlich Fachpolitik gemacht werden. Das ist aber nicht immer so. Vielleicht werden die Ausschusssitzungen effektiver, wenn sie für die Bürgerinnen und Bürger öffentlich sind. Das ist für Bündnis 90/Die Grünen ein Schritt hin zu mehr Beteiligung der Menschen, ein Schritt hin zur gelebten Demokratie.

Volksstimme: Die Linke macht ihre Fraktionssitzungen öffentlich. Warum macht Bündnis 90/Die Grünen das nicht auch?

Dalbert: Das sind auch strategische Gremien. So einen Rückzugsort muss es geben. Wir haben aber regelmäßig Gäste und auch die Führungskräfte der Partei sind ständige Gäste.

Volksstimme: Haben die Grünen schon eigene Gesetzentwürfe eingebracht?

Dalbert: Ja, zum Beispiel gleich im Mai 2011 zur Schullaufbahnempfehlung für Grundschülerinnen und Grundschüler. Dafür wurde ich im Parlament zunächst verlacht. Es ist aber klar ein grüner Erfolg, dass die Landesregierung gezwungen war, dieses Thema aufzugreifen und die Verbindlichkeit der Schullaufbahnempfehlung abzuschaffen. Nun hat der Elternwille wieder Vorrang. Auch das Thema Polizeikennzeichnung haben wir so angestoßen.

Volksstimme: Gibt es eine Kooperation mit der Linken?

Dalbert: Wir arbeiten sehr konstruktiv mit den Kolleginnen und Kollegen zusammen - fraktionsübergreifend. Eine Art Bündnis der Opposition gegen die Koalition gibt es nicht. Wir stimmen den überzeugenden Anträgen zu. Bündnis 90/Die Grünen geht es um Inhalte, nicht um Etikette.

Volksstimme: In Nordrhein-Westfalen stehen momentan alle Zeichen auf Rot-Grün, auch die Umfragen auf Bundesebene sehen für die Grünen gut aus. Mit wem könnten Sie sich in Sachsen-Anhalt eine Koalition vorstellen?

Dalbert: Die Wählerinnen und Wähler bestimmen die Parteikonstellationen, die möglich sind. Im Prinzip müssen wir mit jeder demokratischen Partei zusammenarbeiten können. Die CDU macht mit der Braunkohle eine rückwärtsgewandte Energiepolitik und fährt auf Bundesebene die Erneuerbaren Energien an die Wand, da gibt es derzeit keine Schnittmenge. Mit der SPD ist die größer, zum Beispiel im Bildungsbereich - obwohl die Politik, die die SPD in der Koalition macht, desaströs ist.

Volksstimme: Eines Ihrer Kernthemen ist die Stärkung der Erneuerbaren Energien. Aber die Braunkohle - so sagt es auch die SPD - wird als grundlastfähiger Energielieferant noch für einen Übergang gebraucht. Warum sind Sie gegen ein neues, modernes Braunkohlekraftwerk?

Dalbert: Wir haben die Kohle als Übergang - bis etwa 2030. Aber wenn ein neues Braunkohlekraftwerk entsteht, reden wir nicht von 20, sondern von den nächsten 50 Jahren. Klimapolitisch wäre das eine Katastrophe, es würde eine Verdopplung des CO2-Ausstoßes bedeuten.

"Wir müssen aber weiter konsequent unsere Energie- und Warmwassergewinnung durch Sonnenkraft ausbauen."

Volksstimme: Aber auch Kohlekraftwerke müssen für jede Tonne CO2 entsprechende Zertifikate kaufen. Und die Menge der Zertifikate ist in Europa gedeckelt und wird schrittweise gesenkt. Wenn Sachsen-Anhalt kein Kohlekraftwerk baut, entsteht es womöglich anderswo und ändert nichts an der CO2-Bilanz in Europa.

Dalbert: Wir müssen immer vor der eigenen Haustür anfangen. In Sachsen-Anhalt sind wir da doch auf einem guten Weg. Wir müssen aber weiter konsequent unsere Energie- und Warmwassergewinnung durch Sonnenkraft sowie die Energieeffizienz ausbauen. Windenergie ist bereits unsere Stärke.

Volksstimme: Die einst hochgelobten Betriebe im "Solar Valley" Wolfen-Thalheim kämpfen ums Überleben. Q-Cells hat Insolvenz angemeldet. Solarmodule aus China sind billiger. Wie kann dieses Problem gelöst werden?

Dalbert: Ein Problem ist die weltweite Überproduktion in der Solarindustrie. Da wird sich der Markt selbst regulieren. Wir wollen nicht, dass die Förderung steigt. Wir fragen aber, warum privilegieren wir nicht Solarprodukte aus Europa? Stärker gefördert werden sollten jene Module, die überwiegend in der EU hergestellt wurden. Das ist unsere erste Forderung. Zweitens brauchen wir so schnell wie möglich die Landesenergieagentur. Die steht zwar im Koalitionsvertrag von CDU und SPD drin - passiert aber ist bislang nichts. Es ist noch viel Luft im Markt der Erneuerbaren Energien, nicht nur für Häuslebauer, auch für Gemeinden. Wir müssen die Mittel, die wir haben, besser nutzen. Auch bei der Energiespeicherung und dem Netzausbau müssen wir vorankommen - wir wissen doch noch gar nicht, wo in Sachsen-Anhalt was ausgebaut werden muss. Wir sagen: Da ist eine vernünftige, transparente Planung nötig. Bei all diesen Aufgaben wäre die Landesenergieagentur das Scharnier zwischen den unterschiedlichen Akteuren.

Volksstimme: Die Koalition lobt sich für ihren Doppelhaushalt. Gehen Sie mit?

"Gegen die Schuldenbremse haben wir nichts einzuwenden. Die Politik der Eckwerte ist falsch."

Dalbert: Gegen die Schuldenbremse haben wir nichts einzuwenden. Aber die Politik der Eckwerte ist falsch. Anstatt von Seiten der Landesregierung zentrale Projekte festzulegen und deren Finanzierung zu sichern, wird nun jeder Haushalt separat betrachtet. Dies kommt einer Bankrotterklärung für politische Gestaltungsspielräume gleich. Und außerdem umgeht die Landesregierung das Parlament. Die Haushaltshoheit der Abgeordneten wird zunehmend ausgehöhlt.

Volksstimme: Ein weiteres Großprojekt von CDU und SPD ist das neue Kinderförderungsgesetz. Bekommt das Kifög Ihre Zustimmung?

Dalbert: Bündnis 90/Die Grünen haben den Ganztagsanspruch immer gefordert. Und obwohl jetzt noch Geld da ist, kommen diese Neuerungen nur stufenweise. Warum diese Tippelschritte? Außerdem muss die Landesregierung auch die Personalschlüssel ändern. Wir brauchen gerade bei Krippenkindern mehr Personal. Kindertagesstätten müssen Bildungs- und nicht Aufbewahrungsort sein.

Volksstimme: Ein anderes Vorhaben ist die Gemeinschaftsschule. Auch eine Idee, die eher aus dem rot-grünen Lager stammt.

Dalbert: Es gibt ja noch keinen endgültigen Gesetzentwurf. Was ich da aber jetzt höre, treibt mir die Zornesröte ins Gesicht. Das wird ein Etikettenschwindel. Das scheint nicht mehr als eine Integrierte Gesamtschule zu werden. Der Hauptfehler ist aus unserer Sicht: Man sortiert die Kinder immer noch und setzt von vornherein Schulabschlüsse fest, die das Kind erreichen darf, statt das Können jedes einzelnen Kindes bestmöglich zu fördern und dann zu sehen, für welchen Schulabschluss es reicht.

Volksstimme: Die Linke moniert, dass dieser neue Schultyp freiwillig eingeführt werden soll - das könne nicht funktionieren, da mit der Bildung eines Gymnasiums im Ort A dann am Ort B ein Gymnasium stirbt.

"Ich warne in jedem Fall vor einem Kulturkampf gegen das Gymnasium."

Dalbert: Das sehen wir anders. Auch wir sind für Freiwilligkeit - man kann eine Schule nicht gegen Eltern und Schulträger machen. Aber man muss natürlich die Gemeinschaftsschule attraktiv machen, etwa durch interessante Profilbildungen. Eine Gemeinschaftsschule muss alle Abschlüsse bieten, und wenn es die Schülerzahlen hergeben, gibt es parallel noch andere Schulformen. Warum zum Beispiel kooperieren Gemeinschaftsschulen und Gymnasium für die Oberstufe nicht? All das müssen die Menschen vor Ort entscheiden. Ich warne in jedem Fall vor einem Kulturkampf gegen das Gymnasium.

Volksstimme: Was halten Sie vom neuen Vergabegesetz? Öffentliche Aufträge sollen künftig nur noch an tariftreue Firmen gehen.

Dalbert: Das kann sich die Landesregierung sparen, wenn sie keinen Mindestlohn darin verankert. Bündnis 90/Die Grünen fordern einen flächendeckenden Mindestlohn. Außerdem muss ein Vergabegesetz ökologische und soziale Aspekte berücksichtigen.

Volksstimme: Apropos Bezahlung: Die Abgeordnetenentschädigung soll auf einen Schlag um 18 Prozent angehoben werden. Ihre Landesparteivorsitzende Lüddemann bekam deswegen schon "Kopfschmerzen". Sie auch?

Dalbert: 18 Prozent auf einen Schlag, das ist viel. Partei und Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen haben sich deshalb auf folgenden Standpunkt geeinigt: Eine Zustimmung der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen wird es nur geben, wenn parallel zur Anhebung der Abgeordnetendiäten auf das Niveau von Richterinnen und Richtern auch eine Anpassung der Rentenbezüge an das Beamtenversorgungsgesetz erfolgt.

Volksstimme: 18 Prozent sind sicher auch schwer vermittelbar. Was halten Sie von dieser Marge?

Dalbert: Steigen die Diäten jetzt um 18 Prozent auf das Niveau von Richterinnen und Richtern, muss die Altersversorgung - dieser Logik folgend - angepasst werden. Dies bedeutet ein Absinken auf fast die Hälfte des heutigen Niveaus.

Volksstimme: Warum nicht eine Anpassung entsprechend der allgemeinen Lohnsteigerungsraten?

Dalbert: Sie können mir glauben, dass keine Abgeordnete gerne über ihre eigenen Bezüge entscheidet, aber es gibt nun mal keinen zweiten Gesetzgeber neben dem Parlament. Der vorgeschlagene Sprung um 18 Prozent bei den Diäten ist nur so groß, weil in der Vergangenheit immer wieder von den Vorschlägen der Diätenkommission nach unten abgewichen wurde. Wenn wir uns jetzt dazu durchringen sollten, das Niveau der Amtsrichterbesoldung zu erreichen, dann muss sich die künftige Entwicklung der Diäten nach oben oder unten zwingend an den Veränderungen im öffentlichen Dienst orientieren. Das ist klar. Bündnis 90/Die Grünen fragen sich auch, ob die Einstufung der Wahlkreismitarbeiterinnen und Wahlkreismitarbeiter als Schreibkraft noch zeitgemäß ist.

Volksstimme: Die Linke will an die Kirchenverträge ran. Gehen Sie mit?

"Haseloff hat offensichtlich weder Richtlinienkompetenz noch Visionen."

Dalbert: Da haben wir uns enthalten. Abgesehen davon, dass sich die Bündnis-Bewegung hinter Kirchenmauern gegründet hat, und viele unserer Abgeordneten konfessionell gebunden sind, hat dieser Antrag den falschen Adressaten. Auf Bundesebene müssen hier zunächst Rahmenverträge für die Ablösung der Kirchenverträge geschaffen werden. Erst danach können wir die Frage diskutieren, was die Gesellschaft als Leistung der Kirche für den Staat anerkennen will.

Volksstimme: Wie erleben Sie Ministerpräsident Reiner Haseloff?

Dalbert: Wolfgang Böhmer war der Prototyp eines Landesvaters, der gut bei der Bevölkerung ankam. Haseloff hat offensichtlich weder Richtlinienkompetenz noch Visionen für Sachsen-Anhalt. Um es mal mit der Musik zu vergleichen: Man erwartet vom Dirigenten Haseloff ein schönes Stück, stattdessen hört man eine vielstimmige Kakophonie.

Volksstimme: Wie führen Sie Ihre Fraktion? Als Dirigentin?

Dalbert: Die Fäden müssen bei der Fraktionschefin zusammenlaufen. So jedenfalls verstehe ich meine Rolle.