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Rechtsmedizinisches Gutachten von Professor Manfred Kleiber aus Halle belastet 57 Jahre alte Angeklagte aus Weißenfels schwer "Joker" im Messer-Mord-Prozess von 1988: "Suizid ist beinahe ausgeschlossen"

Von Bernd Kaufholz 15.05.2012, 03:20

Halle l "Alea iacta est", raunte ein lateinkundiger Prozessbeobachter im Zuschauerraum seinem Nachbarn zu. Und der Würfel scheint nach dem Gutachten des langjährigen Chefs der halleschen Uni-Rechtsmedizin, Professor Manfred Kleiber, gestern wirklich gefallen zu sein.

Mit seinem Vortrag sind womöglich auch für die 1. Große Strafkammer die Pflöcke im Indizienprozess eingeschlagen. Denn nach dem Stich-Kanal-Gutachten gab der Vorsitzende Jan Stengel einen sogenannten rechtlichen Hinweis: "Sollte es zu einer Verurteilung kommen, kann es sich möglicherweise auch um Totschlag handeln."

Doch vorerst ist die Weißenfelserin Marion W. noch wegen Mordes angeklagt. Sie soll am 2. Dezember 1988 (!) ihren damaligen Lebensgefährten Lutz B. heimtückisch erstochen haben. Erst durch den Sohn der Angeklagten war der Stein 2009 ins Rollen gekommen. Zu DDR-Zeiten war der Fall als Selbstmord zu den Akten gelegt worden, obwohl damals schon die Obduzenten eine Tiefenrecherche angemahnt hatten.

Marion W. hatte 1988 angegeben, dass sie Lutz B. "röchelnd", auf dem Rücken im Bett liegend, vorgefunden habe.

Zusammenarbeit von LKA und Privatfirma bringt Durchbruch

Die Probleme, vor denen die Prozessbeteiligten seit dem ersten Tag stehen, sind: Es gibt keinen Zeugen für das Geschehen und außer dem rechtsmedizinischen Gutachten von Anfang 1989 keine Ermittlungsunterlagen (?), nach 24 Jahren kann oder will sich kaum ein Zeuge (Familie, Polizei) an die Tatumstände erinnern.

Doch zum "Joker" könnte gestern tatsächlich Manfred Kleiber geworden sein. Das Gericht hatte beim Landeskriminalamt eine 3-D-Visualisierung des tödlichen Stichs in Auftrag gegeben. Unterstützt hatte diese Arbeit die Magdeburger Firma Medical Images, die sich unter anderem mit OP-Visualisierungen beschäftigt.

Den Prozessbeteiligten wurde nun das Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeit anhand von Fotos und zwei Videos - basierend auf den Obduktionsergebnissen von 1989 - vorgestellt. Kleiber erläutert: "Die Schneide drang schräg von links unten nach rechts oben ein und zwar links, seitlich der Brustmittellinie."

Der Stichkanal sei durch den Knorpel oberhalb der 4. Rippe gegangen und habe die Vorderwand des Herzbeutels über der rechten Herzkammer geöffnet. Der weitere Verlauf: Herzscheidewand zwischen beiden Herzkammern, auf der Rückseite wieder hinaus, durch das Zwerchfell in den linken Leberlappen.

"Das Messer - Klingenlänge 11,8 Zentimeter - muss mit sehr großer Wucht eingesetzt worden sein." Die gesamte Klinge sei eingedrungen. Todesursache: "Einbluten in den Herzbeutel". Durch das Blut - 430 Kubikzentimeter (0,43 Liter) - sei es zu einem "erzwungenen Herzstillstand" gekommen. Und zwar nach etwa einer Minute. "Ab 150 bis 200 Kubikzentimeter (etwa eine größere Tasse) trete der Tod ein. Je mehr Blut, desto schneller.

Kleiber zur Selbstmordtheorie von 1988: "Das Opfer war Linkshänder, hatte sich jedoch den Arm verletzt, so dass er nicht zu gebrauchen war." Lutz B. habe also den "ungeübten rechten Arm einsetzen müssen". Der Rechtsmediziner versuchte den vorgefundenen Stichkanal mit einem Messerstich, geführt mit der rechten Hand, in Übereinstimmung zu bringen. Sein Fazit: "Sehr unwahrscheinlich."

Für einen Dritten, der an der rechten Seite des Opfers zum Unterkörper hin gestanden habe, sei der Stichkanal allerdings "nahezu typisch". Die Selbstmordtheorie sei somit "realitätsfern".

Auch die Stichkanaltiefe spreche eher für Fremdeinwirkung. Dass keine Abwehrverletzungen gefunden wurden, deute auf "Arglosigkeit" hin. Und tatsächlich war bei Lutz B. ein Alkoholwert von 1,86 Promille festgestellt worden.

Strafkammer verweist auf Verjährungsunterbrechung

Dass sogenannte Probierschnitte, also mehr oder weniger tiefe Verletzungen, die sich Selbstmörder vor der tödlichen Verletzung beibringen, fehlten, sei ebenfalls atypisch für Suizid. Aus Sicht des Rechtsmediziners fehlte es auch an den typischen Blutanhaftungen an jener Hand, die das Messer führte. Ebenfalls ein Argument gegen die Suizidtheorie.

Lediglich, dass es im Unterhemd, das der Notarzt entfernt hatte, keinen Ritzer im Stoff gab, könne für Suizid sprechen. "Nahezu alle Selbstmörder entfernen, bevor sie Messer oder Pistole ansetzen, dort die Bekleidung." Das Hemd könne bei dem Alkoholisierungsgrad allerdings auch von selbst hochgerutscht sein.

Stengel verwies nach dem Totschlags-Hinweis auf die Unterbrechung der Verjährungsfrist durch die Wiederaufnahme des Verfahrens am 19. Juni 2009 beziehungsweise am 3. Juni 2010. Totschlag verjährt nach 20 Jahren. Somit wäre 2008 ein Totschlag bereits "durch" gewesen. Doch der Kammervorsitzende erklärte: "Bei allen DDR-Kapitalverbrechen, die bis zum 3. Oktober 1990 nicht aufgeklärt waren, begann die Frist neu. Im aktuellen Fall war somit der 3. Oktober 2010 Stichtag. Diese Deadline wurde nun durch die Unterbrechung aufgehoben.