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Einmaliges Projekt "Ich will mich" endet nach drei Jahren Behinderte starten Leben ohne Psychopharmaka

Von Andreas Stein 29.05.2012, 05:39

Im Magdeburger Regenbogenhaus endet in diesen Tagen ein bundesweit wohl einmaliges Projekt: 19 der geistig und mehrfach behinderten Bewohner reduzierten schrittweise die Menge ihrer Psychopharmaka - und sind nun wieder sie selbst.

Magdeburg l Wäsche waschen, Essen kochen, im eigenen Bett in der eigenen Wohnung schlafen - für die meisten Menschen ist das normal. Nicht so für viele geistig und mehrfach behinderte Menschen - sie leben in Kliniken oder Wohnstätten und brauchen dauerhaft Unterstützung oder Begleitung. In der Regel bekommen sie dort mehrere Medikamente, darunter Psychopharmaka, die sie beruhigen und Aggressionen gegen sich selbst oder andere verhindern sollen.

Die Nebenwirkungen sind zahlreich und zum Teil drastisch: "Einige Bewohner sind apathisch, Speichel fließt ihnen aus dem Mund", berichtet Gerhard Ackermann, Leiter der Magdeburger Wohnstätte "Regenbogenhaus" des Paritätischen. Er ist seit 1999 dort tätig und hat die Medikation seitdem immer wieder hinterfragt. "Wir haben mit den behandelnden Ärzten gesprochen, aber es war schwierig, das zu thematisieren", so Ackermann. Oft habe es nur geheißen: "Das wird schon seinen Grund haben." Tatsache ist: Die Mitarbeiter des Regenbogenhauses und offenbar auch die Ärzte wissen oft gar nicht, warum ihre Schützlinge Psychopharmaka nehmen müssen. 80 Prozent der Bewohner kommen aus den psychiatrischen Kliniken des Landes, wo ihnen die Medikamente verordnet wurden. So auch Bärbel Soika. Die 45-Jährige kam 1986 als eine der ersten Bewohnerinnen ins Regenbogenhaus - und konnte im April 2012 nach beinahe 30 in Kliniken und Wohnstätten verbrachten Jahren in eine eigene Wohnung ziehen.

Die kleine lebenslustige Frau nahm am bundesweit wohl einzigartigen Projekt "Ich will mich" des Paritätischen teil. 19 der insgesamt 54 Bewohner haben dabei seit 2009 unter ärztlicher Aufsicht ihre Psychopharmaka teils oder ganz abgesetzt. Alle sechs Wochen wurde die Dosis reduziert, die Mitarbeiter führten täglich Buch über das Verhalten des Patienten und meldeten es dem Arzt, der entschied, ob die Reduktion weiterläuft oder ausgesetzt wird. Dank einer Geldspritze der "Aktion Mensch" und mehrerer Sponsoren konnten für die zusätzliche Betreuung drei Mitarbeiter eingestellt und zahlreiche begleitende Angebote gemacht werden.

Mit erstaunlichem Erfolg: Bärbel Soika war nach einem halben Jahr "clean" - und ein komplett anderer Mensch. Nach dem Absetzen der appetitanregenden Medikamente verlor sie 30 Kilogramm Gewicht, wurde wie die anderen Bewohner offener. Alle Teilnehmer hatten im wörtlichen Sinne mehr Selbst-Bewusstsein, die Beziehungen zwischen den Bewohnern und mit den Mitarbeitern verbesserten sich spürbar, auch wenn es anfangs durch die veränderte Gruppendynamik Probleme gab.

"Wir haben von Anfang an mit allen Bewohnern und Mitarbeitern über das Projekt gesprochen und auch die Teilnehmer immer gefragt: Möchtest du so leben?", berichtet Gerhard Ackermann. Manche fanden sich nicht zurecht und erhielten wieder Medikamente. Bärbel Soika nicht. Sie wohnt in einer Einraumwohnung auf dem Magdeburger Heumarkt, arbeitet seit einem Jahr in der Behindertenwerkstatt der Pfeifferschen Stiftungen. "Ich bin richtig glücklich, alleine zu wohnen", sagt sie und ist "stolz, endlich eine erwachsene Frau zu sein." Sie ist nicht die Erste und nicht die Einzige, die dank "Ich will mich" das Regenbogenhaus verlassen haben - zwei weitere ehemalige Bewohner lernen nun in einem Außenwohnprojekt den Weg zurück in die Selbstständigkeit.

Es hätten mehr Bewohner am Projekt teilnehmen können - doch nicht alle Angehörigen waren damit einverstanden. Und auch im eigenen Haus musste Ackermann viele Skeptiker überzeugen. Doch nun habe sich das Bewusstsein im Team total verändert, eine Einrichtung in Löffingen (Baden-Württemberg) will die Idee sogar übernehmen. Trotz des offiziellen Projektendes soll die Reduzierung auch in Magdeburg weiterlaufen.

Die Martin-Luther-Universität hat "Ich will mich" wissenschaftlich begleitet und will die Ergebnisse in Kürze in einer Fachbroschüre veröffentlichen. Ist das der Anfang eines Paradigmenwechsels im Umgang mit Behinderten? Gerhard Ackermann hofft es, glaubt aber nicht recht daran. "Behinderte Menschen sollen leben, wie sie es selbst wollen und nicht, wie die Gesellschaft es ihnen vorschreibt", fordert er. Dass Einrichtungen ihren behinderten Bewohnern neue Lebensperspektiven aufzeigen, sei jedoch die absolute Ausnahme.