Magdeburger Tierschutzverein beklagt "immer groteskere Entscheidungen" bei Umsetzung des Hundegesetzes. Von Matthias Fricke Hundegesetz: Oma Sophie, Struppi und ihr Drama
Die Umsetzung des umstrittenen Hundegesetzes nimmt nach Angaben des Magdeburger Tierschutzvereins "immer groteskere" Züge an. Die Behörden erklärten das 15 Jahre alte Schoßhündchen einer 89-Jährigen für "gefährlich". Struppi sollte sogar hinter Gitter, doch dazu kam es nicht mehr.
Magdeburg l Das Schicksal der 89-jährigen Sophie Friedrich bewegt nicht nur viele Bewohner ihres Zehngeschossers am Hanns-Eisler-Platz. Fast jeder, der ihre Geschichte hört, ist davon ergriffen. Nachbarn schalten sich ein, der Rechtsanwalt hilft kostenlos und der Tierschutzverein geht auf die Barrikaden. Nur das Magdeburger Ordnungsamt zeigt sich lange unbeeindruckt. Aber dazu später.
Es ist der 24. März dieses Jahres gegen 17.30 Uhr, als die Rentnerin mit ihrem "Struppi" Gassi geht. Sie hat ihn seit 15 Jahren und gerade in den letzten Monaten ist der Hund das Einzige, was ihr geblieben ist. Erst vor zwei Jahren verstarb ihr Lebensgefährte, im vergangenen Jahr ihr Sohn. Da ist "Struppi" ihr letzter Halt. Sie hat ihm immer das beste Futter gekauft, auch wenn ihre Rente mit 700 Euro knapp bemessen ist. Sophie Friedrich: "Auch für den Tierarzt habe ich immer das Geld zusammengekratzt." Sie lässt die kranken Pfoten des inzwischen in die Jahre gekommenen Lhasa-Apso-Mischlings operieren. Fast blind tappst er an der Leine der 89-jährigen Frau.
An jenem Tag kommt ihr eine Frau mit einem vierjährigen Kind entgegen. Die Mutter fragt, ob der Junge das Tier streicheln könne. Die Rentnerin erlaubt es und traut ihren Augen nicht. Der Junge geht grob mit Struppi um, setzt sich auf ihn und tritt auf seine verletzte Pfote, während er am Ohr des Hundes dreht. Struppi jault, dreht sich um, schnappt und erwischt offenbar das Ohrläppchen des knienden Kindes.
"Ich habe einen Tropfen Blut gesehen und diesen mit dem Taschentuch wegwischen wollen", erzählt Sophie Friedrich. Doch die Mutter ist offenbar so erschrocken, dass sie Polizei und Rettungsdienst alarmiert. Es herrscht helle Aufregung, die von der 89-Jährigen unterschätzt wird. Sie verlässt den Ort, geht später aber wieder hin, um ihre Personalien anzugeben.
Wenige Tage später steht ein Polizist vor der Tür und will sich den Hund ansehen. Als der Beamte den kleinen Struppi sieht, muss er lachen. Der Fall ist erledigt, denkt sie. Tatsächlich stellt die Staatsanwaltschaft später das Verfahren auch umgehend ein. Nun dürfte alles vom Tisch sein, glaubt die Rentnerin. Von dem Kind, der Mutter oder sonst irgendwem hat sie auch nie wieder etwas gehört.
Doch der Ärger beginnt erst. Ihr flattert ein Schreiben des Magdeburger Ordnungsamtes ins Haus. Sie vereinbart einen Termin, schafft es aus gesundheitlichen Gründen aber nicht, dort hinzugehen. Eine Nachbarin übernimmt das Telefonat. Sie gibt dem Ordnungsamt den Hinweis, dass sich die Beamten doch an die Polizei wenden und ihre dort vorliegende Stellungnahme abfordern können. Das macht der Mitarbeiter auch und lässt am 2. Juli dieses Jahres dennoch mitteilen: "Ihr Hund hat ohne erkennbaren Grund angegriffen und gebissen ... In Bewertung des vorliegenden Sachverhaltes geht von ihrem Hund eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus. Er hat Menschen angesprungen und gebissen. Es ist daher nicht auszuschließen, dass Ihr Hund erneut Menschen anspringen und beißen wird." Die 89-Jährige wäre zu diesem Zeitpunkt froh gewesen, wenn ihr alter Hund überhaupt noch zu einem Hüpfer in der Lage gewesen wäre. Doch der Behördenmitarbeiter setzt noch einen drauf: "Darüber hinaus habe ich entschieden, dass der Hund ... einen Maulkorb zu tragen hat." Sophie Friedrich soll mit ihren 89 Jahren eine 30 Fragen umfassende schriftliche und praktische Sachkundeprüfung ablegen und dazu ins Landesverwaltungsamt kommen. Für die Rentnerin ist das eine "Tagesreise" mit der Straßenbahn. Der Hund benötigt zudem einen Wesenstest und eine Haftpflichtversicherung. Die zu erwartenden Kosten: mehrere hundert Euro (siehe Informationskasten).
Als Rechtsanwalt Ronald Renner von dem Schicksal der Frau hört, schaltet er sich ein und versucht, zwischen der Rentnerin und der Behörde kostenlos zu vermitteln. Das Landesverwaltungsamt wünscht ein Attest, dass die Frau tatsächlich nicht an der Sachkundeprüfung teilnehmen kann. Ronald Renner: "Die Mitarbeiter waren sehr freundlich, aber sie sagten, so ist das Gesetz." Zu diesem Zeitpunkt ist die Rentnerin kurz davor, ihren Hund zu verlieren. Struppi wäre in den letzten Monaten seines Lebens ins Tierheim gekommen, aufgehoben an einem geheimen Ort. Ein Besuchsrecht für Frauchen oder Herrchen gibt es bei "Sicherstellungen" nicht.
Der Fall erhält am 21. September eine dramatische Wende. Sophie Friedrich geht mit ihrem Struppi zum letzten Mal gemeinsam Gassi. Auf dem Rückweg in die Wohnung nimmt sie wie immer den Fahrstuhl. Eine junge Frau wartet auf sie, bis beide in die 6. Etage fahren. Dort macht der erst vor wenigen Monaten neu eingebaute Fahrstuhl seltsame Geräusche.
Die Tür öffnet sich und Struppi läuft an der flexiblen Hundeleine hinaus, dann schließen sich die Türen plötzlich und der Fahrstuhl fährt weiter nach oben. Die Leine spult bis zum Ende ab. Es gibt einen Ruck. Die beiden Frauen bleiben mit dem Fahrkorb zwischen zwei Etagen stecken und können erst von der Feuerwehr befreit werden. Sophie Friedrich sucht ihren Hund, doch die Feuerwehrmänner schütteln mit dem Kopf. Er hat nicht überlebt. Des Schmerzes über den Verlust nicht genug, muss sie nun den Tod des Hundes nachweisen. Ein Nachbar hat dafür von der Feuerwehr einen Beleg besorgt. Nun steht noch die Rechnung über mehrere hundert Euro für das "Verwaltungsverfahren" aus. Inzwischen gibt es erste Mahnungen.
Das Ordnungsamt kündigte gestern an: "Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände, insbesondere dem Tod des Hundes, sieht die Stadt davon ab, die entstandenen Kosten in Rechnung zu stellen." Es hieß aber weiter: "Das Gesetz enthält keine Regelung für sogenannte ,Bagatellfälle\'." Der Behörde stand "hier kein Bewertungs- und Ermessensspielraum zu". Die Fachaufsicht habe das bereits mehrmals angemahnt.
Dem widerspricht Anke Reppin, Sprecherin des Innenministeriums: "Die Behörde hat alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen. Einen Automatismus zum Beurteilen der Gefährlichkeit gibt es nicht." Was die Kritik der Tierschutzvereine an dem Gesetz betrifft, verweist sie auf die Novellierung im nächsten Jahr. Gudrun Müller vom Magdeburger Tierschutzverein: "Das Gesetz muss sofort geändert werden. Die Entscheidungen werden ja immer grotesker."