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Volksstimme-Reporter Oliver Schlicht geht für einen Tag auf Zeitreise in das Magdeburg des Jahres 1890 Durch die Stadt zu Fuß mit Hut und Butterbrot

Von Oliver Schlicht 20.08.2010, 07:29

Redakteur der Volksstimme im Sommer 1890: Wie mag das wohl gewesen sein? Nichts leichter als das. Ich drehe meine Uhr einfach mal 120 Jahre zurück.

Schön! Der Wecker am Bett eines Redakteurs klingelt auch 1890 nicht früh um sechs Uhr. Gegen acht Uhr stehe ich auf. Meine Dachwohnung am Krökentor ist klein, aber billig und halbwegs zentral gelegen.

Zeit für das kleine Morgengeschäft. Ich werfe den schweren Morgenmantel über und öffne die Wohnungstür einen Spalt breit. Das Klo ist unten halbe Treppe im Treppenhaus. Aber halt, der Nachttopf muss mit. Vorsichtig, ganz schön voll die Schüssel.

Wieder spät geworden gestern Abend im "Schützenhaus". Dieser Regierungsrat Beutelsack hat ewig über die Sozialistengesetze schwadroniert. Fürchterlich. Aber die Sache von der verhinderten Heirat der Tochter des Oberpostsekretärs, weil der Auserwählte nur ein kleiner Dreher im Grusonwerk ist – das könnte was für die Zeitung sein.

Frühstückstisch. Die Milch von gestern ist noch nicht sauer. Ein Glück. Eine Scheibe Brot. Die Butter schmeckt lecker. Das leiste ich mir. Wir sind schließlich nicht bei armen Leuten. Etwas Erdbeermus. Fertig. Halt, noch ein Butterbrot für den Mittagstisch. War da nicht irgendwo noch ein Wurstzipfel?

Am Spiegel zupfe ich das Hemd am Kragen gerade. Jackett an, Hut auf. Ein schicker Hut, französisches Modell. Der passt zu mir. Nicht so ein Advokatendeckel. Auf geht’s. Die Treppe hinunter, Haustür auf: Magdeburg, ich komme!

Neun Uhr, die Stadt ist schon hellwach. Pferdedroschken fahren den Breiten Weg hinauf, ein Bursche schiebt Gemüsekisten auf einem Holzkarren am Straßenrand entlang. Drüben auf der anderen Straßenseite steht Jupp, der Zeitungsjunge, und will seinen "Centralanzeiger" verkaufen.

Was schreibt die Konkurrenz?

Ich gebe ihm seinen Groschen. Mal sehen, was die Konkurrenz so schreibt: Der neue Kanzler Leo von Caprivi zeigt im Handelsstreit Russland die kalte Schulter. Na prima, das geht ja weiter wie bei Bismarck. Hört das denn nie auf? Aber das ist interessant: Die erste Schienenbahn mit Dampfmaschine soll demnächst bis in den Herrenkrug fahren. Toll! Mit der Schienenbahn so weit hinaus. Herrenkrug, das ist ja fast Berlin. Schon die Pferdebahn auf Schienen den Breiten Weg entlang ist famos. Erst vor 15 Jahren eingeführt, aber schon will jeder mitfahren. Das hat Zukunft. Die fahren bestimmt bald alle mit Dampfkraft.

"Ja, wen haben wir denn da? Der Herr Redakteur liest Zeitung auf der Straße. Nicht, dass er sich seine schönen Augen verblendet."

"Ach schau her, die Lucy aus dem Varieté. Mademoiselle ist aber früh unterwegs."

"Und hungrig ist sie auch. Ob der Redakteur seinem kleinen Zuckerschnäuzchen vielleicht ein Törtchen drüben in der Konditorei spendiert?"

"Heute nicht, Lucy. Ich muss jetzt dringend in die Redaktion. Komm, kriegst noch ein Bussi."

"Troll dich! Nichts da, mit Bussi!"

Schnell weg. Heute aber nicht mit der Pferdebahn. Das wird zu teuer jeden Tag. Bis zur Redaktion sind es ja nur 20 Minuten zu Fuß. Treppe rauf, Tür auf. Das Fräulein Klappschuh steht auf, tritt neben ihren Sekretärstisch und macht einen Knicks: "Guten Morgen, Herr Schlicht!" So ist recht. Auch in einer sozialistischen Zeitung. So viel Zeit muss sein. "Guten Morgen, Fräulein Klappschuh! Ach, und drehen Sie bitte das Licht etwas auf." Das tut sie auch zugleich. Die Gaslampe an der Decke hüllt die Redaktionsstube in helles Licht.

Ich persönlich mag ja Gaslicht. Magdeburg hat gerade ein tolles, neues Gaswerk bauen lassen. Gaslaternen stehen an allen wichtigen Straßen. Auch die besser betuchten Häusern sind mit Gasanschlüssen ausgestattet. Wenngleich natürlich der Elektrizität die Zukunft gehört. Aber die streiten ja immer noch, ob nun Gleichstrom oder Wechselstrom besser ist.

Es gibt Gerüchte, wonach 1895 herum endlich das erste große Elektrizitätswerk in Magdeburg gebaut werden soll. Solche Werke schießen im ganzen Kaiserreich derzeit wie Pilze aus dem Boden.

Mein Schreibtisch: Eine Schreibunterlage, ein Tintenfass und zwei Stahlfedern. Rechts im Fach die Arbeitsblätter für die Druckerei. Darunter das gute Papier für die Korrespondenz. Fräulein Klappschuh bringt eine Tasse Kaffee und die Frühpost. Mal sehen: Einladung, Einladung, endlich die Antwort vom preußischen Hochbauamt zur Strombrücke. Parteipost, Reklame, Parteipost, Reklame. Guck an, drei Paar Schnürsenkel bei Schönborn in der Kurfürstenstraße für neun Groschen. Was haben wir noch? Die aktuelle Berlin-Depesche mit politischen Nachrichten und die Auslands-Depesche.

Diese Depeschendienste sind wirklich wichtig. Seit die Bahnstrecke von Berlin nach Magdeburg ausgebaut wurde, gibt es in die Reichshauptstadt auch einen gut funktionierenden Telegrafendienst. Darüber werden täglich die neuesten Wirtschaftsneuigkeiten und Börsennachrichten übertragen. Und natürlich auch alle wichtigen politischen Mitteilungen aus dem Reichstag.

Aber was die Magdeburger Arbeiterschaft wirklich bewegt, darüber steht kaum etwas in den Depeschen. Und das ist ja schließlich meine wichtigste Leserschaft. "Fräulein Klappschuh!" "Ja, Herr Schlicht!" "Gibt es auch Mitteilungen aus unseren Volksstimme-Briefkästen?" Frau Klappschuh bringt einen Kasten mit Zettelchen. "Etwas Gebäck, Herr Schlicht?" "Nein, ich muss jetzt arbeiten."

Volksstimme-Briefkästen? Ja, das ist eine tolle Idee. Bei allen bekannten SPD-Genossen im Stadtgebiet hängen vom ersten Erscheinungstag der Zeitung an solche Kästen. Dort hinein werfen Arbeiter Zettel mit Notizen über Vorfälle in ihren Betrieben. Auch die Schriftführer in Partei- und Gewerkschaftsversammlungen teilen der Redaktion ihre Protokolle mit. Na, dann werde ich mal die Briefkastenpost sortieren: Interessante Zettel linker Haufen, Kleinigkeiten rechter Haufen.

Ein Brief nach Groß-Ottersleben

12 Uhr, jetzt muss ich aber anfangen mit dem Artikelschreiben. Erstes Blatt. Feder in die Tinte getaucht, los geht es. Und schön sauber schreiben, damit die Schriftsetzer heute Abend nicht wieder schimpfen. Hier, bei der Sache mit der unbezahlten Nachtarbeit in der Schlachterei, muss ich noch mal nachfragen. Wir bitten brieflich um einen Termin bei Schlachter Robert Prophet.

Ach, könnte man in das ferne Groß-Ottersleben einfach so telegrafieren. Oder gar mit Hörer und Muschel telefonieren. So etwas soll ja schon möglich sein, hört man aus Berlin. Es nützt nichts. Magdeburg ist nun mal nicht der Nabel der Welt. Ein Brief tut es auch. Wozu gibt es in der Stadt die vielen hundert Botenjungen.

19 Uhr. Das Tagwerk ist vollbracht. Nun werden die Seiten gesetzt. Hinten füllt der Drucker schon Farbe ein. 2000 Zeitungen mit der handgedrehten Druckmaschine, das dauert die ganze Nacht. "Auf Wiedersehen, Frau Klappschuh!"

Draußen auf der Straße fahren die ersten Droschken zum Großen Theater. Mir ist nicht nach Theater. Morgen früh muss ich ins Polizeipräsidium. "Verhör in Angelegenheit Majestätsbeleidigung" stand auf der Vorladung. Dumme Sache. Nicht, dass die mich gleich wegsperren. Das mit Lucy muss ich auch noch in Ordnung bringen. Gibt es jetzt hier noch irgendwo Törtchen?