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Als Jugendliche erlebt Inge Cornelsen am 30. September 1989 in der Botschaft den historischen Moment mit. Von Matthias Fricke Prag: Tagebuch einer Flucht aus der Börde

30.09.2014, 01:16

Die damals 19-jährige Inge Cornelsen aus Bregenstedt in der Börde flüchtete heute vor 25 Jahren in einem günstigen Moment durch das Tor der Prager Botschaft und wird Zeugin eines der bewegendsten Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte. Ihre Erlebnisse hielt sie in einem Tagebuch fest.

Bregenstedt l Im vollen Zug nach Prag sitzt am Abend des 29. September 1989 die 19-jährige Inge, damals hieß sie noch Preckel, gemeinsam mit ihrer Mutter. Sie will ihre Tochter zur Botschaft in die Tschechoslowakei begleiten. Die 60-Jährige selbst hat als Rentnerin schon ein Dauervisum und könnte ganz normal ausreisen. Sie will aber sichergehen, dass ihre Tochter es schafft. Im Zug sitzt auch eine Bekannte der Mutter, sie heißt Brigitte. Ihre Tochter und ihr Enkelkind sind schon in der Botschaft in Prag.

"Wer war Stasi und wen würde man in der Botschaft wiedersehen?"

Es sind ängstliche Stunden, die alle Drei miterleben. In ihrem Tagebuch hält die 19-Jährige später fest: "Überall waren Leute, die sich misstrauisch begutachteten. Wer war Stasi und wen würde man in der Botschaft wiedersehen?"

Der erste Schock: Brigitte wird kurz vor der Grenze bei der Kontrolle aus dem Zug geholt. Sie hat aus Angst in Haldensleben kein Geld getauscht. Später waren alle Kassen dicht. Zu diesem Zeitpunkt herrscht aber Zwangsumtausch, obwohl die Tschechoslowakei noch das einzige Land ohne Visapflicht für DDR-Bürger ist. Diese wird erst einige Tage später eingeführt. Im Tagebuch heißt es: "Würde sie es schaffen, doch noch nach Prag zu kommen? Ich wollte mit aussteigen, doch meine Mutter hielt mich zurück."

Als Inge selbst kontrolliert wird, stockt ihr der Atem. Jeder zückt automatisch seinen Personalausweis, wobei ein Polizist die Fahndungsliste durchgeht. Die Angst sitzt tief, denn ihr Ausreiseantrag zum Geburtstag ihrer Tante in Hamburg war am 4. August zuvor abgelehnt worden. Lapidare Begründung: "Die Versagung der Reise erfolgt, weil es zum Schutz der Landesverteidigung notwendig ist..." Vielleicht steht nun auch sie wegen möglicher Republikflucht auf der Fahndungsliste? Die Jugendliche wollte, so sagt sie später, tatsächlich drüben bleiben. "Mein Traum war Amerika. Ich fühlte mich hier eingesperrt, wusste aber auch, dass ich meine Heimat nie wiedersehen würde", sagt die 44-Jährige heute. Ihr Entschluss stand lange fest. Sie notierte in ihrem Tagebuch: "Meine Sachen waren alle in Ordnung gebracht, mein Zimmer zum letzten Mal aufgeräumt und alle persönlichen Dinge sortiert, damit bei einer eventuellen Hausdurchsuchung nichts gefunden werden konnte ... Papa sah dem allem mit ungutem Gefühl zu."

Der Zug stoppt, die beiden Frauen erreichen am Morgen des 30. September Prag. Einen Stadtplan gibt es da schon nicht mehr zu kaufen. Sie verlassen schnell den Bahnhof, da es von tschechischer Polizei wimmelt.

Kurze Zeit später treffen sie auf ein junges Ehepaar. Beide beugen sich an einem Trabant über eine Karte. Was sie suchen, scheint klar zu sein. Die Idee: Sie haben den Stadtplan und die beiden Frauen aus Bregenstedt die Adresse. Gemeinsam fahren sie mit dem Trabi zur Botschaft. Auch dort wimmelt es von Polizisten. Diese geben zu verstehen, dass sie in dem Bereich nicht parken dürfen. Die Straßen sind bereits verstopft mit den DDR-Autos. Es gibt aber noch eine kleine Lücke. Die vorübergehenden Weggefährten trennen sich. Zu viert würde das Vorhaben viel zu gefährlich sein.

Inge und ihre Mutter suchen nun einen Weg in die Botschaft. "Im Fernsehen haben wir eine Kabelrolle gesehen, über die viele über den Zaun geklettert sind. Diese wollten wir finden", erinnert sich Inge heute an die Situation damals.

Doch es kommt alles anders. Im Park entledigt sich die 19-Jährige ihres Rucksacks, die wichtigsten Dinge hat sie nun nur noch in einer Plastiktüte.

Durch Zufall finden Mutter und Tochter das Botschaftsgelände und den Zaun, den beide nur vom West-Fernsehen her kennen. Genauer gesagt, aus dem ZDF. Und dieser Umstand hilft den beiden auch entscheidend weiter.

Es kommt eine Menschentraube auf sie zu. Mutter Ilse erkennt den damaligen ZDF-Korrespondenten Joachim Jauer. "Falls die Leute in die Botschaft gehen. Da musst du mit rein", sagt ihre Mutter und schiebt sie vorwärts.

Jetzt oder nie, das ist der Schritt in die Freiheit. Die Gruppe steht immer noch vor dem Tor. Es rührt sich niemand. Dann löst sich eine Frau aus der Gruppe und geht zur Klingel an der Botschaft. Es ist die ZDF-Reporterin Susanne Gelhard. Als ein Mann ihr die Tür einen Spalt breit öffnet, schiebt sich Inge mit durch und rempelt die Journalistin beiseite. "Ich hatte Angst, die Tür könnte vor meiner Nase zuknallen", sagt sie. Stattdessen meint der Mann an der Tür aber zu ihr: "Ist ja gut. Du kannst ja rein!" In ihrem Tagebuch heißt es dazu: "In meinen Augen sammelten sich Freudentränen, die ich zu unterdrücken bemüht war." Die 19-Jährige trifft in der Botschaft Brigitte und das junge Ehepaar wieder. Beide hatten es über den Zaun geschafft. Nun warten sie alle dichtgedrängt auf ihre Ausreise.

Lange müssen sie aber nicht mehr warten. An diesem Abend ist es soweit.

Kameras und Mikrofone werden aufgebaut, Scheinwerfer eingeschaltet. Hans-Dietrich Genscher erscheint auf dem Balkon und sagt: "Liebe Landsleute ...", worauf ein erster unbeschreibbarer befreiender Jubel ausbricht. "Liebe Landsleute", das hat auch für Inge schon alles gesagt.

Der Rest seiner Rede (Zitat im Kasten) ist bekannt und geht in die Geschichtsbücher ein. Immer wieder muss Genscher an diesem Abend seine Rede für Sprechchöre "Freiheit, Freiheit" unterbrechen. Im Tagebuch heißt es später: "Wir trauten unseren Ohren kaum. Um 21 Uhr sollte der erste Zug fahren."

"Es war ein Empfang, ein Willkommen, wie ich es mir nie erträumt hätte."

Die 19-jährige Inge sitzt bereits im nächsten Zug nach Hof. "Viele hatten davor echte Angst, dass er wieder durch die DDR führt", erinnert sie sich. In jedem Zug fuhr deshalb auch ein Bonner Regierungsbeamter mit, sozusagen als Schutzperson. In Dresden springen noch drei junge Leute auf ihren Waggon auf. Inge: "Dann, kurz vor der Grenze, sammelte ein Stasi-Mensch die Personalausweise mit den Worten ein: "Die brauchen Sie ja nicht mehr".

In Hof angekommen, bricht die Jugendliche endgültig in Tränen aus. Im Tagebuch steht später: "Der Begriff Ankunft wäre hier fehl am Platz, denn es war mehr. Es war ein Empfang, ein Willkommen, wie ich es mir nie erträumt hätte."

Nach ihrer Ankunft fährt sie zunächst nach München zu ihren Verwandten. Schon am 2. Oktober trifft sie in Hannover ihre Mutter wieder, die mit ihrem Dauervisum eingereist ist. Die heute 85-Jährige: "Von der Ausreise habe ich erst im Taxi von Magdeburg nach Bregenstedt gehört, als ich aus Prag zurückkam. Der Fahrer erzählte mir alles." Sie fuhr sofort los in den Westen.

Die Jugendliche bleibt in Hamburg, arbeitet 1990 ein Jahr als "Au pair" in Kanada. Sie beginnt in Hamburg eine Berufsausbildung als Rechtsanwaltsfachangestellte. Später studiert sie Jura in Greifswald und zieht 1998 nach Bregenstedt zurück. Zwei Jahre später kommt ihr erstes Kind zur Welt. 2001 heiratet sie ihren heutigen Mann Wilfried Cornelsen. 2004 wird sie erneut Mutter.