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Fahnenflucht in der DDR Der Sprung in die Freiheit

Für Millionen DDR-Bürger war die Grenze der Deutschen Demokratischen Republik Endstation. Sie waren eingesperrt in einem Staat, den Tausende Soldaten bewachten. Auch der Grenzer Hermann Pröhl gehörte zu ihnen - bis er alles auf eine Karte setzte.

07.11.2014, 01:12

Hötensleben l An diesem Tag ist für ihn eine Welt zusammengebrochen. 13. August 1961, Hermann Pröhl wird dieses Datum nie vergessen. Es ist der Tag, an dem ihm das DDR-Regime die Freiheit raubt. Der Tag, an dem in Berlin der Mauerbau beginnt. Noch am Abend zuvor ist der damals 14-Jährige zu Besuch im Paradies gewesen. In Berlin-Moabit, bei seiner Tante. Kinos, die Blue Jeans in den Läden, die breiten Boulevards - das aufregende West-Berliner Leben ist über Nacht plötzlich unerreichbar geworden. Doch seine Träume lässt sich Pröhl nicht nehmen. Irgendwann, sagt er sich, haue ich ab aus diesem Staat.

Von außen betrachtet wirkt Hermann Pröhl damals wie ein ganz normaler DDR-Bürger. Geboren 1947 in "Klein Moskau" in Zeitz, Pionier- und FDJ-Karriere - so wünscht sich das die sozialistische Führung. Die Mitgliedschaft in der vormilitärischen GST (Gesellschaft für Sport und Technik) lehnt er zwar ab. Doch nach der Ausbildung zum Elekroinstallateur kommt im März 1967 trotzdem der Einberufungsbefehl zur Nationalen Volksarmee: I. Kompanie, 25. Grenzausbildungsregiment, Dingelstedt (Kreis Halberstadt).

"Das war ein Schock für mich", erinnert sich Hermann Pröhl heute. Mit allem hatte er gerechnet. "Aber nicht damit, dass ich Grenzer werden sollte. Das wollte ich auf keinen Fall", sagt er mit gedankenverlorenem Blick. Dass er trotz Westverwandschaft an die Grenze kam, kann er heute immer noch nicht glauben.

"Dass ich Grenzer werden sollte, war ein Schock für mich."

Doch als er im Mai 1967 einrückt, erinnert er sich an das, was er sich selbst vor einigen Jahren versprochen hat: Irgendwann haust du ab. Wenn nicht jetzt - wann dann?

Pröhl schlägt sich gut in der Ausbildung. Im Oktober wird er nach Hötensleben versetzt. Doch als er die Grenze sieht, bricht für den jungen Mann wieder eine Welt zusammen. Dass die DDR so gut abgesichert ist, hatte er nicht geglaubt. Hermann Pröhl ist frustriert. Die Kameradschaft trägt ihn in dieser Zeit.

"Einmal waren wir zu dritt draußen an der Grenze und haben uns besoffen. Ein Bier nach dem nächsten. Plötzlich standen auf der anderen Seite bundesdeutsche Zöllner", erinnert sich Hermann Pröhl. "Wir waren völlig überrascht und wussten nicht, wie wir reagieren sollten. Das war Kontakt mit dem Feind. Aber die sprachen uns an und warfen uns doch tatsächlich Kulmbacher Exportbier rüber", sagt Pröhl. Er lacht. "Wir gaben denen unser DDR-Bier und flachsten rum. Und dann gingen beide Seiten wieder ihrem Dienst nach." Der heute 67-Jährige schüttelt den Kopf. Wäre das aufgeflogen, wäre Pröhls Karriere als Grenzer ganz schnell vorbei gewesen.

Doch der Zeitzer hatte Glück - und fragt sich immer wieder: Wie willst du fliehen? Irgendwann schmiedet er einen Plan. Pröhl will einen seiner Kameraden mit Schlaftabletten ruhigstellen und über den Grenzzaun klettern. Wie das bei einer Höhe von 3,20 Metern gelingen soll, weiß er nicht. Dennoch besorgt der Soldat die Medikamente und reibt sie geheim in der Küche klein. Dann kommt die entscheidende Nachtschicht.

Als der Kamerad austreten muss, füllt Pröhl die Substanz in den Trinkbecher. Doch dann passiert etwas, mit dem er nicht gerechnet hat: Das Pulver löst sich nicht auf. Pröhl packt die Panik. Die Zeit drängt. Im Hintergrund hört er bereits die Schritte des Grenzers. Pröhl muss eine Entscheidung treffen: Es darauf anlegen oder abbrechen? Pröhl kippt den Becher aus. Zu seinem Kameraden sagt er: "Tut mir leid, ich hatte solchen Durst. Ich habe es nicht mehr ausgehalten und dein Wasser getrunken." Fluchtversuch gescheitert.

Im Januar 1968 darf Pröhl in die Heimat reisen. Der 20-Jährige ist frustriert. Doch er weiß nicht, wem er sich mitteilen soll. Seine Eltern will er nicht einbeziehen, also schickt er einen Brief an eine Tante in Nordrhein-Westfalen - und erzählt ihr von seinen Fluchtplänen.

"Dass das nicht aufgeflogen ist, war pures Glück. Ich war unglaublich leichtsinnig und habe mir gar keine Gedanken darüber gemacht, ob der Brief von der Stasi gelesen werden könnte", sagt Hermann Pröhl heute. "Ich wollte unbedingt weg. Die Konsequenzen meines Verhaltens konnte ich kaum abschätzen." Hermann Pröhl hat Gänsehaut, auch nach 46 Jahren noch.

Im Frühjahr 1968, Pröhl ist zum Postenführer aufgestiegen, lernt er einen jungen Soldaten kennen, Peter Müller (Name geändert). Dieser vertraut sich ihm an. "Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich fliehen", sagt Müller zu Pröhl. Doch der hat Angst, dass er von einem Spitzel getestet wird. Pröhl weist Müller zurecht. Er solle es ja nicht noch einmal wagen, mit ihm darüber zu sprechen.

Pröhl behält Müller trotzdem im Auge. In der Nacht vom 11. auf den 12. Juli 1968 haben die beiden jungen Soldaten nahe dem alten Bahndamm Wachdienst. Eine ideale Fluchtstelle - vom Posten sind es nur 50 Meter bis zur Grenze. Doch als Pröhl anfängt, zu überlegen, ob heute vielleicht der Tag sein könnte, wird die Hoffnung schon zerstört. Eine Offiziersstreife verweilt bei Müller und Pröhl. Doch 3.15 Uhr geht das Funkgerät an: Die Streife erhält Marschbefehl. Sie soll zu einem anderen Posten weiterziehen.

Pröhl wartet, bis die Offiziere weg sind. Dann stellt er sich vor Müller auf und sagt: "Ich bin dein Postenführer, du musst meinen Befehlen gehorchen. Ich gebe dir jetzt den Befehl zu flüchten!" Müller schaut ihn ungläubig an. Dann wirft der junge Soldat seinen Mantel weg und rennt los. Auf dem Weg zum Grenzzaun bleibt er noch einmal stehen und dreht sich um - die beiden Männer schauen sich in die Augen. Ziehe ich das jetzt durch?, fragt sich Pröhl. Dann lädt er seine Waffe durch und rennt hinterher.

Den Weg in die Freiheit blockiert nur noch der 3,20 Meter hohe Grenzzaun. Pröhl nimmt seine Kalaschnikow, steckt sie auf Kopfhöhe in ein Loch eines Betonpfeilers und stellt sich mit dem Rücken daran. Per Räuberleiter gelangt Müller auf den Pfeiler - und bleibt oben sitzen.

"Das ist ein Phänomen. In diesem Moment hätte für mich alles vorbei sein können", sagt Hermann Pröhl, der sich heute noch an jedes Detail erinnert. "Wäre der Kamerad drüben sofort runtergesprungen, wäre ich wahrscheinlich nicht mehr hochgekommen. Es war ja nichts abgesprochen, es passierte einfach."

Müller reicht Pröhl die Hand, zieht ihn hoch und springt runter. Pröhl steigt auf den Pfeiler, springt hinterher. Nur noch wenige Meter, dann sind die beiden Grenzer in der Bundesrepublik. Ein paar alte Bahnschienen über den kleinen Grenzfluss Schöninger Aue sind die Brücke in den Westen. Nach knapp sieben Jahren ist Hermann Pröhl endlich am Ziel.

"Ich bin dein Posten- führer. Ich gebe dir jetzt den Befehl zu flüchten."

"Wir sind dann nach Schöningen reingelaufen. Kurz vor dem Ort haben wir vor Freude erstmal die drei Magazine meines Kameraden leergeschossen", sagt Hermann Pröhl. An einem Industriebetrieb sind sie später einem Pförtner begegnet. "Der hat uns gleich eine Flasche Coca-Cola zu trinken gegeben und dann die Polizei angerufen."

In Helmstedt mussten sich die beiden Fahnenflüchtigen anschließend einem Verhör stellen. Sie sollten DDR-Führungsoffiziere auf Fotos identifizieren. "Der Zoll und der Bundesnachrichtendienst waren damals ziemlich gut über die andere Seite informiert", erinnert sich Pröhl, der zu seiner Tante nach Nordrhein-Westfalen ging. Doch dort blieb er ein Fremder. "Ich war da der `Kaffeesachse`, bin mit den Leuten im Ruhrgebiet nie richtig warm geworden. Damals sagte ich mir: `Ein zweites Mal wärst du wohl nicht geflüchtet.` Ich war in einer Lebenskrise."

Der Lichtblick: West-Berlin. Im April 1969 hat er noch mal einen Neuanfang gewagt. "Berlin war damals schon international. Die suchten Arbeitskräfte, also bin ich rüber", sagt Pröhl. Seit 1971 wohnt er mit seiner Frau in Berlin-Neukölln in derselben Wohnung.

Auf der anderen Seite hat die Stasi mehrfach versucht, Pröhls Vater dazu zu bewegen, seinen Sohn in die DDR zurückzuholen. Erst zehn Jahre nach Pröhls Flucht durfte ihn sein Vater als Rentner das erste Mal in West-Berlin besuchen.

Die Deutsche Demokratische Republik hat Pröhl nach seiner Flucht erst 1989 wieder betreten. Der gegen ihn verhängte Haftbefehl war ein Jahr zuvor aufgehoben worden. Den Weihnachtsurlaub im Wendejahr bei seinen Eltern hat Pröhl abbrechen müssen. "Ich habe es dort nicht ausgehalten - all die Erinnerungen. Und ich war auch so enttäuscht darüber, wie heruntergekommen Zeitz war", sagt er und wirkt traurig, wenn er an diese Momente denkt. Der Preis der Flucht war hoch.

Heute hat der 67-Jährige seinen Frieden mit der Vergangenheit gemacht. Er ist dankbar, dass er sein Glück im Westen noch gefunden hat. Pröhls Kamerad ist in der Bundesrepublik nicht so gut zurechtgekommen. Aus seiner eigenen 400 Seiten starken Stasiakte weiß Hermann Pröhl, dass Müller später mehrfach beim Handel mit Drogen erwischt worden ist. 1974, sieben Jahre nach der gemeinsamen Flucht, ist Müller in die DDR zurückgekehrt.