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Familienratgeber Jesper Juul: "Kinder nicht für alles loben"

Der Therapeut Jesper Juul beantwortet im Interview Fragen zur Erziehung. Das Gespräch ist der Auftakt zur Serie "Abenteuer Familie“.

Von Kerstin Singer 15.01.2017, 02:00

Herr Juul, Eltern fühlen sich gestresst, reiben sich zwischen Beruf und Familie auf. Aber auch ihren Kindern geht es so. Sie haben wenig Zeit für sich. Gibt es einen Weg aus dieser Situation?

Jesper Juul: Wenn ich die Entwicklungen in Europa beobachte, sehe ich immer häufiger Eltern, die ihren eigenen Weg aus diesem Dilemma finden. Gleichzeitig sehe ich jedoch Politiker, die stur an dem Glauben festhalten, dass es am besten für die Gesellschaft sei, wenn jeder so viel wie möglich erreicht und abliefert - das beginnt bereits im Kindergarten und hört bei der Rente auf.

Sie empfehlen, Kleinkinder möglichst erst im Alter von zwei Jahren in eine Betreuung zu geben, um wieder arbeiten zu können. Welche Vorteile hat das für das Kind?

Der Schlüssel zu einer gesunden und positiven Entwicklung der Kinder ist das Wohlbefinden der Eltern. In den ersten zwei Jahren müssen Eltern die Beziehung zu ihrem Kind festigen. Das wird das Leben der gesamten Familie für die nächten 20 Jahre positiv beeinflussen. Wenn Kinder bereits ab dem ersten Lebensjahr in Kinderkrippen gebracht werden - das passiert zur Zeit immer häufiger in Skandinavien - und dort sieben bis acht Stunden täglich verbringen, wird es sehr schwierig, eine solche Eltern-Kind-Verbindung aufzubauen, einige Familien bekommen es einfach nicht hin. Idealerweise wird diese Verbindung über vier Jahre gefestigt. Das heißt nicht, dass einer oder beide Eltern ausschließlich zu Hause bleiben müssen.

Es gibt Eltern, die loben ihre Kinder für jede Kleinigkeit, andere finden nie Worte der Anerkennung. Wie findet man das richtige Maß?

Es ist eine schlechte Angewohnheit von modernen Eltern geworden, Kinder für alles zu loben, was sie tun. Für einige ist das die Art, „Ich liebe dich“ zu sagen. Für andere ist es ein Versuch, das Selbstwertgefühl des Kindes zu stärken. Beides ist unglücklich gewählt. Lob stärkt zwar das Selbstvertrauen des Kindes; aber wenn das Kind für jede noch so kleine Tat Lob bekommt, wird bei ihm ein falsches Selbstbild erzeugt.

Das wird Kinder spätestens dann in Schwierigkeiten bringen, wenn sie herausfinden, dass sie nicht wirklich die Besten in allem sind. Das Risiko hierbei ist, dass die Kinder dann von anderen Kindern mit zu großen Egos gehänselt werden und das Vertrauen in das Feedback ihrer Eltern verlieren. Da die Eltern die Chance verpasst haben, das Selbstwertgefühl der Kinder aufzubauen, werden diese nichts haben, worauf sie zurückgreifen können.

Wenn ein kleines Kind versucht zu zeichnen, auf einen Stuhl zu klettern, auf dem Trampolin zu springen, mit Messer, Gabel und Löffel zu essen und die Toilette alleine zu benutzen - all jene Dinge, die jedes Kind lernen muss, - dann kann es sehr unterstützend sein, Lob von den Eltern zu bekommen, egal ob das Kind erfolgreich war oder nicht.

Mein Tipp ist, nicht übermäßig viel Lob zu geben und die Stimme dabei zu kontrollieren. Manchmal ist es besser, den Kindern ein persönlicheres Feedback zu geben, etwa: „Ich bin so froh, dass du deine Schnürsenkel jetzt alleine zubinden kannst. Das ist eine große Hilfe für mich.“ Das wird den Wunsch in dem Kind verstärken, den Eltern wertvoll zu sein, und gleichzeitig das Band zwischen Eltern und Kind stärken.

Väter und Mütter möchten heutzutage nicht mehr die strengen, unnahbaren Erwachsenen sein wie ihre Eltern. Wie werden sie gute „Leitwölfe“?

Indem sie bestimmt, freundlich und persönlich sind.

Eltern möchten glückliche Kinder haben. Vergessen sie sich dabei zu oft selbst?

Ja, da besteht die Tendenz. Oft ist es besser, den Kindern Sätze zu sagen wie: „Dir beim Lego-Spielen zuzusehen, macht mich glücklich, weil du so entspannt und voller Freude zu sein scheinst.“ Auf diese Weise kann das Kind nach und nach sein eigenes Konzept vom „Glücklichsein“ bilden und dieses Konzept dann den Eltern vermitteln. Die lernen dann wiederum, was ihr Kind glücklich macht.

Dem Kind ständig zu erzählen, dass man „nur“ will, dass es glücklich wird, kann schnell eine Belastung für das Kind sein. Es fühlt sich dann verpflichtet, die Eltern glücklich zu machen. Wir wollen alle, dass unsere Kinder so glücklich wie möglich sind. Trotzdem ist mein Rat, das nicht immer direkt zu sagen. Verwenden Sie andere Wörter wie „zufrieden“, „vergnügt“ oder „erfüllt“. Und vermitteln Sie, dass das Kind und auch Sie selbst verstehen, was andere Menschen glücklich macht.

Manchmal finden Eltern keinen Zugang mehr zu ihren Kindern, oft im Jugendalter. Wann sollten sie eine Familientherapie aufsuchen?

Das ist eine wichtige und schwierige Frage. Die meisten Teenager durchleben eine Phase, in der sie sich von ihren Eltern zurückziehen, um den Unterschied zwischen ihren eigenen sehr persönlichen Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen und denen, die zu der Beziehung mit den Eltern gehören, herauszufinden. Wenn dieser beiderseitige Lernprozess für einen Elternteil zu schmerzhaft wird, ist eine Therapie eine gute Idee. Um erfolgreiche Eltern zu sein, muss man in der Lage sein, die eigenen Bedürfnisse und Enttäuschungen zu kommunizieren. „Ich vermisse es, mit dir so zu sprechen, wie ich es gewohnt war. Also brauche ich Hilfe, um herauszufinden, was meine persönlichen Bedürfnisse sind und was dein Privatleben ist“, das wäre ein möglicher Ansatz. Auf keinen Fall sollte es wie eine Kritik oder Diagnose herüberkommen. Also nicht etwa: „Du erzählst uns nichts mehr“; „Wie kann ich wissen, was du machst, wenn du uns nichts mehr erzählst und paranoid reagierst, sobald wir dich drauf ansprechen.“

Erleben Sie Unterschiede in der Beratung von deutschen und dänischen Familien?

Es gibt eine deutliche Tendenz, dass dänische Eltern ihren Kindern mehr vertrauen. Das macht die Kinder ehrlicher und offener. Außerdem sind sich dänische Eltern darüber bewusst, dass sie nicht das „Recht“ haben, über das Privatleben, die Gefühle und Gedanken der Kinder ständig informiert zu werden. Wenn Teenager und junge Erwachsene ihr Privatleben mit den Eltern teilen, ist es ein Geschenk und ein Privileg, das geschätzt und mit dem mit Sorgfalt und Vertrauen umgegangen werden muss. Das heißt: Nicht mit anderen Familienmitgliedern, Freunden und sozialen Medien geteilt werden darf.

Das Interview mit Jesper Juul wurde auf Englisch geführt (Übersetzung: Emily Engels).