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Ursachen von und Strategien gegen Prokrastination Auf den letzten Drücker: Viele leiden unter "Aufschieberitis"

Von Juliane Matthey 16.04.2010, 04:49

Er drückte sich vor der Steuererklärung, jahrelang, akzeptierte Strafzahlungen und den Gedanken, irgendwann im Gefängnis zu landen. Erst seine neue Lebensgefährtin half ihm, die Aufschieberei zu beenden, indem sie den Berg an Arbeit in überschaubare Portionen aufteilte. Die Diplom-Psychologin Angelika Gulder schildert diesen Fall aus ihrer Praxis als Karriereund Lebensberaterin – ein Einzelfall bei vielen tausend Kunden.

Berlin / Hofheim ( ddp ). Doch mit " Aufschieberitis " haben viele bisweilen zu kämpfen. Kaum einer stürzt sich überpünktlich auf die Steuererklärung oder gibt die Diplomarbeit vier Wochen zu früh ab. Jeder fünfte Erwachsene, schätzt der Chicagoer Psychologe Joseph Ferrari anhand von Erhebungen in mehreren Ländern, hat sogar ein ernsthaftes Problem mit dem, was seit einigen Jahren auch im Deutschen als " Prokrastination " bekannt ist.

Psychologen bezeichnen damit das Vermeiden, " sich einer als prioritär bezeichneten Aufgabe konsequent, zeitnah und relativ stressfrei zu widmen ", sagt Hans-Werner Rückert, Leiter der Studien und Psychologischen Beratung an der Freien Universität Berlin, der sich seit 20 Jahren mit dem Phänomen beschäftigt. Besonders betroffen sind neben Selbständigen, die sich ihre Zeit selbst einteilen müssen, ohne dass sie dabei kontrolliert würden, auch Studenten. Im Studium treffen oft unklare Ziel-und Zeitvorgaben auf mangelnde Organisations- und Zeitmanagementkompetenz seitens der Studenten. Eine Befragung der Pädagogischen Hochschule Freiburg ergab, dass 58 Prozent von ihnen Arbeitsaufträge aufschieben und 60 Prozent Ausweichverhalten zeigen.

Solch ein Ausweichverhalten ist oft von Aktionismus gekennzeichnet. " Aufschieber tun ja nicht nichts ", gibt Angelika Gulder zu bedenken. " Ich kenne niemanden, der im Büro nur Däumchen dreht. " Stattdessen werden Akten geordnet oder E-Mails geschrieben, wird geputzt oder gejoggt. All das verspricht eine schnelle Belohnung ; schließlich hat man ja " etwas getan ".

Die Ursachen sind vielfältig. Bei lästigen privaten Erledigungen liegen sie auf der Hand : Wer nicht pünktlich zweimal im Jahr zum Zahnarzt geht oder den Keller aufräumt, hat keine sofortigen negativen Konsequenzen zu fürchten, und wer es tut, wird nicht sofort dafür belohnt. Der Anreiz für frühzeitiges Erledigen ist also gering.

Im professionellen Bereich spielen Perfektionismus und Ehrgeiz, oft gepaart mit Selbstunterschätzung, eine große Rolle. Betroffene feilen ewig an ihrer Aufgabe herum, ohne ihren Ansprüchen zu genügen, und kommen kaum zum Abschluss.

Ängste sind eine weitere Ursache. " Wenn ich denke, ich schaffe es nicht, fange ich gar nicht erst an ", bringt Brigitte Scheidt, Diplom-Psychologin und Karriereberaterin in Berlin, es auf den Punkt. Manche säßen gelähmt vor ihrer Aufgabe wie ein Kaninchen vor der Schlange. Hier sei es besonders wichtig, Teilziele aufzubauen und sich bewusst zu machen, was man im Leben bisher alles bewältigt hat. Schwere Prokrastination indes kann auch ein Symptom tiefer liegender Probleme sein, ADHS etwa oder Depressionen.

Bewusst entscheiden

Lösungsansätze für nicht ganz so schwere Fälle hat Hans-Werner Rückert in Ratgebern zum " BAR-Programm " gebündelt : Bewusstheit, Aktionen, Rechenschaft. Zunächst solle man sich seiner Ziele bewusst werden, positive Gefühle herstellen und negative herunterregeln. " Wichtig ist, jeweils bewusst zu entscheiden, ob man anfängt oder nicht ", rät Brigitte Scheidt. " Anstatt ständig ein schlechtes Gewissen zu haben, übernimmt man die Verantwortung für sein Tun " – unter Umständen auch dafür, ein Ziel fallen zu lassen.

Aktionen bilden den nächsten Schritt. Hier sollte man sich realistische Ziele setzen, aufgeteilt in kleine Etappen, sowie einen realistischen Zeitplan aufnehmen. Angelika Gulder plädiert dafür, diesen Plan aktiv niederzuschreiben. Dabei hilft es, andere Menschen einzuweihen ; das schafft zusätzliche Kontrolle. Der Prozess schließt mit der Rechenschaft ab. Man solle die Fortschritte bilanzieren und sich selbst für das Erreichte belohnen. Belohnungen können im Erreichen der Aufgabe selbst bestehen oder darin, sich etwas Schönes zu gönnen.

Es muss nicht zwangsläufig negativ sein, Arbeitsabschluss oder Entscheidungen bis zum letzten Moment hinauszuzögern. " Bei Termindruck ist man gezwungen auszuwählen und auf den Punkt zu kommen ", sagt Brigitte Scheidt. " Man kann es dann meist auch, da das gestiegene Anspannungsniveau die Aufmerksamkeit schärft. " Gerade Perfektionisten folgten diesem Muster. Wie so oft entscheidet auch hier die individuelle Persönlichkeit, ob es zum Problem wird, dass man alles auf den letzten Drücker erledigt. " Wichtig ist ", betont Scheidt, " zu wissen, wie man tickt und nicht mit sich selbst zu hadern. "