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Flüchtlinge Die einen gehen, die anderen bleiben

Warum es manche Asylbewerber in Ballungsräume zieht - und andere in Sachsen-Anhalt bleiben.

01.02.2016, 23:01

Magdeburg l Nach Angaben des Innenministeriums ziehen 30 Prozent der in Sachsen-Anhalt ankommenden Flüchtlinge weiter. Auf Arbeitssuche gehen viele in die großen Städte. Dort befürchten Stadtverwaltungen Ghettoisierung. Dagegen suchen viele Firmen in Sachsen-Anhalt Facharbeiter und Auszubildende. Ungelernte Arbeiter sind jedoch weniger gefragt.

„Am Ende bleibt es eine individuelle Entscheidung“, sagt Reinhold Sackmann, Soziologe an der Martin-Luther-Universität Halle. Er erforscht, welche Aufnahmekultur es bei Flüchtlingen in Ostdeutschland gibt und beobachtet, dass es für jüngere Flüchtlinge leichter ist, am ostdeutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Sie könnten sich über eine Ausbildung qualifizieren. Ältere hätten oft keine in Deutschland anerkannten Berufsabschlüsse. Sackmann glaubt, dass Flüchtlinge trotzdem Facharbeiterposten füllen können, wenn Firmen in der Lage sind, sie anzulernen.

Asylbewerber, die einen Aufenthaltstitel erhalten, dürfen in Deutschland ohne Einschränkung arbeiten und ihren Wohnort frei wählen. Eine Ausbildung dürfen sie sogar schon drei Monate nach ihrer Registrierung beginnen, wenn ihre Deutschkenntnisse ausreichend sind.

Bei der Jobsuche assistiert in Magdeburg zum Beispiel die islamische Gemeinde. Freiwillige helfen Flüchtlingen beim Kontakt zur Agentur für Arbeit und bei anderen Behördengängen. Die Gemeinden sind Anlaufstelle nicht nur zum Beten, sondern auch für Alltagsfragen. „Egal, ob Afghane, Syrer oder Eritreer: Wir sprechen ihre Sprache“, sagt Moawia Al-Hamid, Imam und erster Vorsitzender der Gemeinde.

Rund 300 Flüchtlinge besuchen die Gebetsräume zur Zeit, schätzt Al-Hamid. Dabei kommen Gläubige auch aus umliegenden Städten, in denen es keine islamische Gemeinde gibt. Positiv beurteilt Al-Hamid die Entwicklung der Strukturen dort. „In Burg hat sich zum Beispiel eine kleine Gemeinschaft gefunden, die zusammen betet.“

Trotzdem würden viele weiterziehen. „Gerade durch Ereignisse wie den Angriff auf syrische Asylbewerber Anfang November haben wir einige Familien verloren“, sagt Al-Hamid. „Es ist unsere Aufgabe, sie hierzubehalten. Aber viele haben inzwischen Angst.“

Weil die, die gehen, hauptsächlich in Ballungsräume ziehen, prüft die Bundesregierung zur Zeit, ob sie Flüchtlingen für eine begrenzte Zeit einen Wohnort in Deutschland zuteilen will.

Von der Idee hält man in Vockerode im Landkreis Wittenberg nichts. „Hier ist ja nichts, wir haben keine Infrastruktur, nicht mal einen Einkaufsladen“, sagt Ortsbürgermeisterin Renate Luckmann. „Das ist die blanke Theorie.“

In dem 1300-Einwohner-Ort sind gut 700 Flüchtlinge untergebracht. Eine Bürgerinitiative protestierte vergangenes Jahr lautstark gegen die Unterbringungspraxis des Kreises.

Luckmann sagt, dass Asylbewerber, die bleiben wollen, bleiben sollen. Bei Wohnortpflicht würde Frustration statt Integration eintreten, vermutet sie. „Ich weiß nicht, was ich mit ihnen machen sollte.“

Asylbewerber ziehen oft in dieselbe Stadt wie Verwandte oder Bekannte. Für viele Nationalitäten heißt das Großstadt oder Westdeutschland. Aber nicht bei allen. „Es gibt durchaus Syrer, die auch vor der neuesten Einwanderungswelle in Ostdeutschland gelebt haben“, sagt Migrationsforscher Sackmann. „In Westdeutschland gab es bis jetzt vergleichsweise wenige Syrer.“

2010 waren gut 250 000 Zuwanderer Arbeitnehmer in den ostdeutschen Flächenländern. 1991 waren es nur knapp 50 000. Fremdenfeindlichkeit ist nach Meinung Sackmanns nur ein Faktor bei der Entscheidung, zu gehen oder zu bleiben. „Der Anteil der Ausländer in Sachsen-Anhalt ist über die Jahre gestiegen. Es muss auch gute Gründe geben, hierzubleiben.“

Nebi Tekle war diesen Monat schon einmal in der Volksstimme. Der Artikel nannte nicht seinen Namen, berichtete aber von einem 21-jährigen Eritreer, der in der Magdeburger Straßenbahn von drei Jugendlichen angegriffen wurde. Tekle hat nur ein paar leichte Prellungen davongetragen. Er zeigt seine kaputte Kette mit goldenem Kreuzanhänger, die ihm die Angreifer vom Hals gerissen hatten. Tekle ist Katholik. Seit August wohnt er in einer Gästewohnung des Pfarramts der Gemeinde St. Sebastian in Magdeburg. Im Gottesdienst hilft er als Ministrant.

Die Gemeinde ist Tekles Lebensmittelpunkt. „Ich will nicht woanders hingehen. Ich möchte bei meiner Kirche bleiben“, sagt Tekle. Die Angreifer hätten ihn schon häufiger angepöbelt und bespuckt. „Ich habe keine Angst vor ihnen“, sagt Tekle. Dass Leute ihm feindlich gegenüberstehen, kennt er. Zwei Jahre war Tekle auf der Flucht durch Afrika, kam über Italien, Österreich und Frankfurt am Main nach Sachsen-Anhalt.

Viele seiner Freunde aus Eritrea würden das Bundesland verlassen, sagt er. Meistens, weil Verwandte schon anderswo in Deutschland leben. Seit Oktober hat Tekle seinen Aufenthaltstitel, im Februar beginnt er seinen sechsmonatigen Integrations-Sprachkurs. Seit fünf Monaten macht er außerdem ein Praktikum als Maler, hat dadurch schon gut Deutsch gelernt. Eine Ausbildungsstelle will er sich als Krankenpfleger suchen. Natürlich in Magdeburg. „Immer Magdeburg, ich mag Magdeburg.“

Aus dem Wohnblock in Oschersleben dringen laute Gespräche in fremden Sprachen. In der Wohnung im vierten Stock ist es ruhig und aufgeräumt. Hier wohnt Mohamad Herk, zusammen mit drei Landsleuten aus Syrien. Ein Raum ist mit gespendeten Sofas als Wohnzimmer eingerichtet, im zweiten Zimmer stehen vier Betten. Hier angekommen ist Herk nicht.

Auf seinem Handy zeigt er ein Video, gedreht im Dezember vom Balkon der Wohnung. Ungefähr 50 Menschen ziehen auf der Straße vorbei, rufen „Wir wollen kein Asylantenheim.“ Eine Demo der Partei „Die Rechte“. „Ich weiß nicht, was sie rufen, aber ich glaube, es ist nicht gut“, sagt Herk. Der 32-Jährige floh vor sechs Monaten aus der nordsyrischen Stadt Aleppo, über Griechenland, die Balkanroute, Passau, München und Halberstadt. Seit vier Monaten ist er in Oschersleben, spricht schon ein wenig Deutsch und passables Englisch. Wenn dem energiegeladenen Mann ein Wort fehlt, tippt er es in ein Übersetzungsprogramm auf seinem Handy. „Ich habe einen Freund in Köln, einen in Berlin, einen in München“, sagt er. „Ich will in eine Stadt, wegen der Arbeit.“

In Syrien hat Herk ein BWL-Studium abgeschlossen, danach Satellitenschüsseln installiert. Einen in Deutschland anerkannten Abschluss hat er nicht. Er würde gerne als Kraftfahrer arbeiten. Dafür lernt er Deutsch, wenn auch langsam. Er wünscht sich einen Muttersprachler als Gesprächspartner, findet es aber schwierig, mit den Nachbarn ins Gespräch zu kommen. „Um Deutsch zu lernen, muss ich es sprechen“, sagt er. Sein Fazit auf Deutsch: „Oschersleben: nicht gut!“