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Böhmer-Interview „Ich habe den Schritt nicht bereut“

Wolfgang Böhmer hat Sachsen-Anhalts Politik geprägt wie kaum ein anderer. Ein Interview kurz vor dem 80. Geburtstag.

Von Jens Schmidt 12.01.2016, 00:01

Volksstimme: Als Kind wollten Sie Lokomotivführer werden. Daraus wurde nichts. Was ist da schiefgelaufen?

Wolfgang Böhmer: Es ist nichts schiefgelaufen. Als ich als Kind das erste Mal mit dem Zug gefahren bin, war ich davon beeindruckt, aber das kann man nicht so ernst nehmen. Ich habe Medizin studiert, bin Arzt geworden. Ich habe es nicht bereut.

Wie kamen Sie in die Politik?

Nach der Wende kamen zwei Männer aus der Ost-CDU auf mich zu ...

… darunter der heutige Ministerpräsident Reiner Haseloff …

… ja, und sie fragten mich, ob ich nicht für den Landtag kandidieren würde. Die beiden sagten: Das ist so etwas ähnliches wie der Bezirkstag. Ich wusste, der tagte einmal im Vierteljahr. Da habe ich gesagt: Gut, das kannst du schaffen, da mache ich mal mit. Ich war Mitte 50, war aus Überzeugung parteilos und hatte bis dahin immer nur gemeckert, ohne mich zu engagieren. Dann kam die erste Wahlkampfveranstaltung, und ich hatte keine Ahnung, wie das geht. Als Gastredner war der damalige Berliner Bürgermeister Eberhard Diepgen hier; ich habe aufgepasst, bei welchen Passagen er Applaus erhält. Das war immer dann der Fall, wenn er etwas gegen die SED gesagt hat. Das habe ich dann auch gemacht. Die Leute haben geklatscht. Und ich wurde gewählt.

Anfangs waren Sie Abgeordneter und zugleich noch Chefarzt. Funktionierte das?

Nein. Schon Ende 1990 habe ich gemerkt, dass das so nebenbei nicht geht. Ich musste mich ständig entschuldigen. Hier in der Klinik habe ich meinen Ärzten etwas von Krisensitzungen vorgeflunkert, damit sie mich vertreten. Umgekehrt habe ich der Fraktion etwas von schweren Krankheitsfällen erzählt, um hier in der Klinik arbeiten zu können. Am Ende war es so, dass ich nur noch gelogen habe. Das ging nicht so weiter. Daher hatte ich mich erkundigt, wie man das Mandat wieder los wird.

Das hat offenbar nicht geklappt.

Nach dem Rücktritt von Gerd Gies im Sommer 1991 wurde Werner Münch Ministerpräsident. Eines Vormittags bestellte er mich ein. Er wollte mich in seinem Kabinett haben. Ich war mit dem festen Vorsatz hingefahren, aus der Politik wieder auszusteigen. Doch er ließ nicht locker. Das Gespräch dauerte vier Stunden lang. Er sprach später von einer schweren Zangengeburt. Ich sagte ihm dann: Das einzige, was ich mir vorstellen kann, ist das Amt des Sozialministers. Mit Krankenhäusern kannte ich mich aus. Schließlich sagte er zu, dem damaligen Sozialminister Schreiber ein anderes Ressort zu geben. Ich willigte also ein, beichtete es meiner Frau, die in Tränen ausbrach, und unterschrieb in meiner Klinik einen Aufhebungsvertrag.

Und warum wurden Sie Finanzminister?

Zwei Tage später sagte mir Münch: Schreiber bockt. Er will Sozialminister bleiben. Gebraucht wird ein Finanzminister. Davon hatte ich aber keine Ahnung. Also wurde ich der am besten bezahlte Umschüler. Aber ich merkte bald, dass man kein Steuerrechtler sein muss, sondern als Minister für die politische Schwerpunktsetzung zuständig ist.

Wie war Ihr Verhältnis zu Münch?

Sachlich, wir waren erst viel später per Du. Er war rhetorisch geschickt, hatte aber ein betontes Selbstwertgefühl. Bald entwickelte sich im Parlament eine negative Stimmung gegen ihn.

Die Münch-Regierung stürzte 1993 über die Gehälteraffäre. Wie sehen Sie das heute?

Das war eine große Enttäuschung, da wir als Kabinett gescheitert waren. Das lag auch daran, dass Münch nicht bereit war, dem damaligen Rechnungshofpräsidenten Schröder bei dem Streit einen Millimeter entgegenzukommen. Die West-Minister standen als Raffkes da. Das war politisch-psychologisch nicht mehr einzufangen. Zusammen mit dem damaligen Innenminister Perschau und Sozialminister Schreiber hatte ich Münch vorgeschlagen, den umstrittenen Teil der West-Minister-Gehälter bis zur Klärung der Rechtslage auf ein Sperrkonto zu überweisen. Doch Münch lehnte das aus Überzeugung ab. Damals war ich noch zu ängstlich, es trotzdem zu machen. Danach riefen mich CDU-Bundestagsabgeordnete an und rieten mir: Mach das! Also ließ ich die Gelder sperren. Münch hatte dann sämtliche West-Minister in Bewegung gesetzt, mich davon abzubringen. Doch ich hab es nicht zurückgenommen. Zwei Jahre später, nach gerichtlicher Klärung, hat mein Nachfolger die Summen wieder ausgezahlt. Juristisch hatten wir korrekt gehandelt, aber politisch waren wir gescheitert.

Es folgten 1994 acht Jahre Minderheitsregierung mit der SPD an der Spitze.

Anfangs dachte ich naiv, eine Minderheitsregierung hält nicht lange durch. Doch das war ja eine Quasi-Koalition – nur, dass die PDS keine Minister hatte. Aber die hatten ein eigenes Interesse daran, dass das Bündnis hält.

2002 strebten Sie eine Sanierungskoalition mit der SPD an. Warum gingen Sie dann aber ein Bündnis mit der FDP ein?

Ich hatte mich innerlich auf die SPD eingestellt. Es gab ja zuvor gelegentlich Kontakte zu Manfred Püchel und auch zu Jens Bullerjahn. Aber dann war ein Bündnis mit der FDP möglich, wodurch manches Problem leichter zu lösen war. Wir mussten enorme Einschnitte vornehmen, da die Landesfinanzen aus dem Ruder gelaufen waren. Ich denke da vor allem an die Begrenzung des Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung. Ich bin heute noch der Meinung, dass es nicht verkehrt ist, Kindern ein paar Stunden am Tag ihre Eltern zuzumuten. Nur die Ministerpräsidenten-Frage gestaltete sich mit der FDP zunächst etwas mühsam.

Wieso?

Cornelia Pieper, die damalige FDP-Spitzenkandidatin, wollte auch Ministerpräsident werden. Sie schlug allen Ernstes vor, die CDU solle darauf eingehen, und im Gegenzug würde die FDP auf einige Ministerposten verzichten. Wir hatten 37 Prozent, die FDP 13 Prozent. Ich sagte, Frau Pieper, das ist für uns kein Thema, ansonsten sind die Koalitionsgespräche nach 20 Minuten beendet. Ich denke, sie hat mir das nicht übelgenommen.

2006 gingen Sie schon im Wahlkampf auf Abstand zur FDP und rückten näher an die SPD. Warum?

Es gab keine sachlichen Differenzen, das lag allein an den Umfragen. Ich hätte es auch als nicht zielführend empfunden, den potenziellen Partner SPD im Wahlkampf hemmungslos zu beschimpfen.

Sie hatten dann ein besonders gutes Verhältnis zum damaligen SPD-Spitzenkandidaten und späteren Finanzminister Jens Bullerjahn. Wie kam es?

Er hat mich mächtig beeindruckt, wie er nach 2002 in seiner SPD den finanzpolitischen Richtungswechsel hinbekommen hat. Mit unerhörtem Fleiß und sehr sachbezogen. Damals habe ich ihm gesagt: Das Finanzministerium ist die Schule des Ministerpräsidenten. 2011 hat SPD-Chef Gabriel das mal während Bullerjahns Wahlkampf aufgegriffen.

Mit dem Regierungschef hat es bei Bullerjahn nicht geklappt. Nach der Wahl im März zieht er sich aus der Politik zurück. Verstehen Sie das?

Das ist seine Entscheidung, die ich nicht weiter zu kommentieren habe. Ich habe aber den Eindruck, dass er innerhalb der SPD Unterstützung verloren hat. Die SPD schickt jetzt eine Spitzenkandidatin ins Rennen, die in der Öffentlichkeit nicht unumstritten ist. Herr Trümper ist aus der Partei ausgetreten. Leute, die richtig gut sind, wie der Bundestagsabgeordnete Lischka, ziehen sich aus der Landespolitik zurück. Dass Jens Bullerjahn nach 25 Jahren engagiertem Einsatz spürt, dass es auch ein Leben außerhalb der Politik gibt, kann ich menschlich gut verstehen.

Wie beurteilen Sie die letzten fünf Jahre Regierungsarbeit?

Ich möchte nicht den Oberlehrer geben. Ich bezweifle nicht, dass sich die Verantwortlichen Mühe geben.

Was spräche für eine Fortsetzung der Koalition mit der SPD?

Für die CDU gibt es keine Alternative. Wir brauchen eine Politik, die hilft, die Wirtschaftskraft im Land zu erhöhen. Wir brauchen keine Regierung, die sich andauernd überlegt, womit wir uns noch alles verwöhnen können. Rot-Rot würde zu einer anderen Schwerpunktsetzung im Land führen. Wahrscheinlich. Genau vorhersagen kann ich das nicht. Ich bin erstaunt, wie geschickt Herr Ramelow in Thüringen darauf verzichtet, originär linke Politik zu machen. Aber das hängt wohl auch von den handelnden Personen ab.

In der Flüchtlingsfrage ringt auch Ihre Partei heftig um den künftigen Kurs. Wie sehen Sie das?

Als Bundeskanzlerin Merkel die Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland ließ, war das ein Akt der Barmherzigkeit. Das würde ich ihr niemals vorwerfen. Allerdings tat sie dies ohne Abstimmung mit den europäischen Partnern; das fällt uns heute auf die Füße. Ich bin mir ziemlich sicher, dass uns die Flüchtlingsproblematik für Jahre, wenn nicht für Jahrzehnte beschäftigen wird.

Was halten Sie vom Streit über Obergrenzen?

Die Flüchtlingszahlen zu reduzieren, ist notwendig und vernünftig. Sie in Europa zu verteilen, wird schwierig. Allerdings hätte ich wahrscheinlich darauf verzichtet, eine Grenzzahl zu nennen. Das schafft neue Schwierigkeiten: Denn was machen wir mit Menschen, die hier ankommen, wenn die Zahl erreicht ist? Und es kann die Diskussion mit anderen EU-Ländern erschweren: Wenn die reichen Deutschen eine Grenzzahl nennen, werden andere die noch weit unterbieten wollen.

Viele äußern Ängste, da so viel Fremdes auf sie einströmt.

Für Sorgen habe ich Verständnis. Aber für Übertreibungen nicht. Bislang wurde niemandem die Rente gekürzt und niemand muss Not leiden, weil zu viele Ausländer da sind. Wir sollten nicht ängstlich sein, sondern mit einem gewissen Selbstwertgefühl auftreten und darauf Wert legen, dass unsere Regeln und Gesetze eingehalten werden.

Mit der AfD ist eine neue Partei entstanden. Müssen wir uns darauf einstellen, dass sich eine national-konservative Kraft rechts neben der CDU etabliert?

Vorübergehend wahrscheinlich ja. In der CDU gab es ja auch Bestrebungen, wieder einen konservativeren Weg einzuschlagen. Wenn die CDU diese innere Diskussion nicht auflöst und wenn eine neue Gruppierung es geschickter anstellt als die innerlich zerstrittene AfD, dann wäre das eine ernstzunehmende Konkurrenz neben der Union.

2011 war für Sie Schluss mit Politik. Hatten Sie Entzugserscheinungen?

Die gab es, das gebe ich zu. Vor allem: Ich musste nun wieder selber Auto fahren. Ich hatte jahrelang hinten gesessen und mich nicht mehr darum gekümmert, ob die Ampel auf Rot oder Grün stand.

Sie sind bislang ohne Beulen durchgekommen?

Bislang ja. Wobei mich meine Frau begleitet. Und bei Fahrten außerhalb Wittenbergs lasse ich mich abholen.

Haben Sie mittlerweile ein Handy?

Ja. Aber kein Smartphone.

Treffen Sie sich mitunter mit Ihrem Nachfolger?

Seitdem er Ministerpräsident ist, haben wir uns zu einem einzigen eher persönlichen Gespräch getroffen. Das hat vielleicht zwanzig Minuten gedauert.

Sie und Reiner Haseloff wohnen in einer Stadt.

Ungefragt will ich niemanden mit meiner Meinung belästigen.

Was macht der Rentner Böhmer so?

Im Sommer habe ich meinen Garten, im Winter die Briefmarken.

Gibt es Dinge, die Sie rückblickend bereuen?

Mit solchen Gedanken quäle ich mich nicht. Ich war gerne Arzt und kannte mich gut in fremden Bäuchen aus. Ich bereue aber auch nicht den Schritt in die Politik, dadurch hat sich mein Horizont ganz erheblich erweitert. Ich sehe Probleme, über die ich früher laut geklagt hätte, heute viel differenzierter.

Haben Sie noch Pläne? Sie wollten doch mehr reisen?

Das war mal meine Vorstellung. Da dachte ich, ich würde jung geblieben in den Ruhestand gehen. Ich habe ja bis 75 gearbeitet. Ich wusste, dass es physiologische Alterserscheinungen gibt, aber ich hatte sie bei mir nicht eingeplant. Jetzt spüre ich sie. Doch ich sage: Wer die nicht erleiden will, muss eher sterben.

Machen Sie sich manchmal Gedanken über den Tod?

Natürlich, die kommen von ganz allein. Aber damit muss man sich nicht allzu sehr quälen. (Lächelnd) Ich kenne die alte Lebensweisheit: Mit fast 80 sollte man einfach nur dankbar sein, wenn man im Kopfe noch klar und unten noch dicht ist.