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Flüchtlingskrise Merkel: "Dauerhafte Lösungen finden"

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht über Flüchtlingskrise, Landtagswahlen und die AfD.

Von Alois Kösters 02.03.2016, 00:01

Berlin l In diesen Tagen ist die Flüchtlingskrise beherrschendes Thema. Allerorten wird sehr aufgeregt diskutiert, argumentiert, polarisiert. Im Bundeskanzleramt, Etage sieben, ist davon nichts zu spüren. In der Machtzentrale ist es erstaunlich ruhig. Im großen Vorraum stehen mehr als 100 Blumensträuße. Es hat zuvor den Aufruf eines Bürgers über Facebook gegeben, der Kanzlerin für ihre Flüchtlingspolitik Blumen zu schenken. Eine Tür öffnet sich. Regierungssprecher Steffen Seibert bittet ins 140 Quadratmeter große Kanzlerinnen-Büro. Angela Merkel geht auf die Besucher zu. „Wo soll ich sitzen?“, fragt sie den Fotografen. Den Kaffee schenkt sie selbst ein.

Frau Bundeskanzlerin, wie wird sich nach der Österreich-Initiative die Lage in der Flüchtlingskrise entwickeln?

Angela Merkel: Es bleibt dabei, dass wir eine gemeinsame und abgestimmte europäische Antwort auf die Flüchtlingskrise brauchen. Die Basis dafür ist das einmütige Bekenntnis der 28 Mitgliedsstaaten Mitte Februar zu folgenden Zielen: Wir wollen gemeinsam unsere EU-Außengrenzen schützen, die illegale Migration bekämpfen und die Zahl der in Europa ankommenden Flüchtlinge reduzieren.

Ein konkreter Fortschritt der letzten Tage ist der jetzt beginnende Nato-Einsatz in der Ägäis, der den Kampf gegen die Schlepperbanden unterstützt. In einiger Zeit werden wir erkennen, wie wirksam das ist. In diesen Tagen sehen wir außerdem, welcher Druck durch einseitiges Vorgehen auf Griechenland entstanden ist. Beim EU-Treffen am 7. März werden wir die Lage bewerten und dann festzulegen haben, wie wir gemeinsam vorgehen. Denn Griechenland darf mit dem Problem nicht allein gelassen werden.

Kann es sein, dass man nur durch das Einfrieren der Balkanroute und Bilder vom Flüchtlingselend in Griechenland überhaupt zu Aktionen kommt?

Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, dass es richtig ist, von außen nach innen zu arbeiten. Das heißt, wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen, Absprachen mit den hauptbetroffenen Nachbarländern Syriens wie zum Beispiel der Türkei treffen und Griechenland helfen, die Flüchtlinge menschenwürdig zu betreuen und seine Grenze, die unsere EU-Außengrenze ist, wirksam zu schützen.

Den Griechen, so sagt Österreichs Außenminister Sebastian Kurz, fehlt es an Bereitschaft und Fähigkeit, die Außengrenzen zu schützen.

Griechenland war lange säumig, wie aber andere Länder auch. Die Hotspots werden zu langsam ausgebaut. Außerdem hatte sich Griechenland verpflichtet, bis Ende 2015 50.000 Plätze für Flüchtlinge zu schaffen, um die Umsiedlung und Verteilung in Europa zu erleichtern, was aber so nicht passiert ist. Inzwischen jedoch wird dort ein großer Teil der ankommenden Flüchtlinge registriert. Das ist ein wichtiger Fortschritt, im letzten September noch war das nur bei einem Bruchteil der Flüchtlinge der Fall.

Aber können die Bilder von der mazedonischen Grenze nicht Menschen bewegen, erst gar nicht loszuziehen?

Wer vor den Bomben auf Aleppo flieht oder vor den Mördern des IS, den schockieren auch die Umstände in Griechenland nicht. Mein Ziel sind und bleiben gesamteuropäische Beschlüsse, die nicht zu Lasten eines einzelnen Mitgliedslandes gehen und die zu einer Reduzierung der Flüchtlingszahl für alle führen.

Das Vertrauen, dass eine gesamteuropäische Lösung in absehbarer Zeit möglich ist, hat aber nicht einmal ihr Parteikollege, Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff. Er hat gerade erst gesagt, eine europäische Lösung sei nicht in Sicht.

Sie wird auch nur Schritt für Schritt zu erreichen sein. In Europa dauert manches lange. Das wissen wir, aber ein wichtiger Schritt war es zum Beispiel, dass sich im Februar alle EU-Länder zum Nato-Einsatz bekannt haben, wie auch das Bekenntnis aller 28 Staaten zu dem Ziel, die illegale Migration zu bekämpfen. Diese Einmütigkeit hatten wir vor Monaten noch nicht. Wir müssen an diese Fragen, die uns alle betreffen, mit gegenseitigem Verständnis und dem Grundgedanken der Solidarität herangehen.

Aber fühlen Sie sich im Moment nicht ein bisschen einsam?

Nein, ich spüre in Deutschland wie in Europa viel Unterstützung. Ich verstehe aber die Ungeduld derjenigen, die sich wünschen, dass alles schneller gehen könnte. Auch wir in Deutschland haben noch einiges zu tun beim Steuern und Ordnen der Flüchtlingssituation: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge etwa hat, obwohl die Mitarbeiter dort enorm aufgeholt haben, immer noch sehr viele Altfälle zu bearbeiten. Wir kommen im Übrigen nicht voran, wenn wir uns in Europa gegenseitig Vorhaltungen machen. Wir sollten nach vorne schauen und die Probleme dauerhaft und im Kern lösen. Es kann nicht darum gehen, einigen Ländern durch einseitige Maßnahmen für ein paar Tage Entlastung zu bringen und dafür anderen zusätzliche Belastung.

Angela Merkel wirkt in sich ruhend. Die Hände hat sie ineinander verschränkt. Die Kanzlerin schaut ihre Gesprächspartner direkt an. Auf Fragen antwortet sie schnell.

Viele Menschen haben Angst vor den Migranten, bei denen man nicht genau weiß, woher sie eigentlich kommen und wer sie sind. Ihre Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass bei 50 bis 80 Prozent die Identität nicht zweifelsfrei geklärt werden kann.

Seit Weihnachten werden die Flüchtlinge nach Ankunft an der deutsch-österreichischen Grenze registriert; dabei findet eine erkennungsdienstliche Bearbeitung statt. Wenn wir über die Sorgen der Menschen sprechen, die ich sehr ernst nehme, dann sollten wir aber gleichzeitig nicht übersehen, dass laut Umfragen über 90 Prozent der Deutschen denen bei uns Schutz gewähren wollen, die vor Terror und Krieg geflohen sind. Aber Sie haben recht: Viele Bürger sind besorgt, dass Flüchtlinge aus rein wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen. Wir können dem aber politisch etwas entgegensetzen. So kommt fast niemand mehr aus den Westbalkanländern, seit sie als sichere Herkunftsstaaten festgelegt wurden. Diese Festlegung hat leider zu lange gedauert, was aber am Zögern von Rot-Grün lag.

Außerdem haben wir Gesetze verschärft, um Ausweisungen von Personen zu erleichtern, die sich strafbar gemacht haben. Verheerend war im Übrigen auch, dass nach der Silvesternacht in Köln der Eindruck aufkommen konnte, über die Männer und ihre Straftaten sollte nicht berichtet werden. Natürlich muss man über jede Straftat sprechen können, egal ob sie ein Deutscher, ein langjährig hier lebender Migrant oder ein Flüchtling verübt hat. Und natürlich muss ein Flüchtling, der unsere Rechtsordnung verletzt, auch damit rechnen, den Asylstatus zu verlieren.

Fremdenfeindlichkeit scheint im Osten verbreiteter zu sein als im Westen. Womit erklären Sie das?

Ich wehre mich gegen pauschale Urteile über einzelne Teile unseres Landes. Wo immer Gewalt gegen Flüchtlinge ausgeübt wird, ist das abstoßend. Die Bilder und Berichte aus Clausnitz habe ich als beschämend empfunden. Aber ich weiß, dass es üble Szenen auch in anderen Regionen Deutschlands gegeben hat. Wir alle müssen diesem Phänomen, egal ob in Ost oder West, entschieden entge-gentreten. Und vergessen wir nie die vielen, vielen Bürger, die ein ganz anderes Bild unseres Landes abgeben, die freiwillig und mit großem Einsatz in der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen arbeiten – in Sachsen genau wie in anderen Bundesländern.

Ist diese fortschreitende Radikalisierung nicht auch ein Beweggrund, die Fragen dringlicher zu stellen, etwa wie der österreichische Außenminister, der sagt: Jetzt ist mal Schluss. Jetzt müssen wir einfach die Grenzen zumachen, weil die Gefahr besteht, dass die Stimmung ganz schlecht wird?

Wer die nationalen Grenzen schließt, bewirkt damit nichts gegen die Ursachen der Flüchtlingsbewegung. Er riskiert obendrein auf Dauer einen Schaden für unsere Wirtschaft. Nein, wir müssen dauerhafte, auch morgen noch vertretbare Lösungen finden – und vor allem Lösungen, die nicht einseitig etwas festlegen, was andere Länder dann ertragen müssen. Wir haben jetzt in Europa ge-meinsam viel zu leisten. Das ist aber möglich, und erste Erfolge auf dem Weg sind ja auch zu erkennen. Und ich arbeite mit aller Kraft an diesen Lösungen.

Das Bundeswirtschaftsministerium rechnet mit 3,6 Millionen Migranten und Flüchtlingen bis 2020. Wie ist diese Zahl begründbar?

Das ist eine rein technische Annahme für die regelmäßige Berechnung des Wachstums­potenzials, mit der ich mich nicht weiter befassen kann. Eine seriöse Prognose, wie viele Menschen in diesem Zeitraum nach Europa kommen werden, kann jetzt niemand abgeben.

Allein der Verlauf des Bürgerkriegs in Syrien ist gar nicht vorhersehbar, so sehr wir auf eine friedliche Entwicklung hoffen und an ihr mitarbeiten. Entscheidend ist, dass wir Maßnahmen getroffen haben und weiter treffen werden, um die Zahl der Flüchtlinge nachhaltig spürbar zu reduzieren.

Die Flüchtlinge werden vor allem in westdeutschen Metropolregionen landen. Das Ruhrgebiet, Bremen, Berlin haben wegen des hohen Migrantenanteils schon heute große Probleme. Wird es künftig statt der Förderung Ost eine spezielle Förderung für Regionen mit hohem Migrantenanteil geben müssen?

Wir haben momentan recht gute Steuereinnahmen. Klar ist, dass es auch nach 2019 spezielle Hilfen für die neuen Länder geben muss und geben wird. Zudem wird der Länderfinanzausgleich neu verhandelt. Im Übrigen übernimmt der Bund einen erheblichen Teil der Kosten für Asylbewerber.

Der hohe Migrantenanteil verursacht etwa in Baden-Württemberg weniger Probleme als etwa in Berlin, weil im Süden mehr Menschen Arbeit haben. Arbeit ist der Schlüssel. Wenn also Flüchtlinge dorthin gehen, wo sie einen Arbeitsplatz bekommen haben, ist das gut. Mit den Ländern sind wir gerade darüber im Gespräch, für die anderen, die noch keinen Arbeitsplatz haben, eine Wohnsitzauflage einzuführen, damit die Ballungsräume nicht überfordert werden.

Herr Haseloff ist gegen eine Wohnsitzauflage. Er rechnet mit vielen Hartz-IV-Empfängern in vielen Regionen.

Wir können dennoch nicht zusehen, wie alle auf einmal in wenigen Großstädten landen. Aber natürlich werden wir das miteinander ausgewogen hinbekommen, und genau das ist Reiner Haseloffs Anliegen. Und Flüchtlinge, die dann doch woanders Arbeit finden, sollten dort selbstverständlich auch hinziehen dürfen.

Sinkende Umfragewerte für die CDU, auch Ihre Popularitätswerte gehen zurück, dazu kommt eine erstarkende AfD. Läuft Ihnen kurz vor drei Landtagswahlen nicht die Zeit davon?

Auch ich wünsche mir, dass manches schneller ginge. Ich arbeite mit vielen Partnern im In- und Ausland zusammen an dauerhaften Lösungen. Und ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, diesen gesamteuropäischen Weg ruhig und beharrlich weiterzugehen, weil er auch im nationalen deutschen Interesse ist.

In Sachsen-Anhalt liegt die AfD derzeit in Umfragen bei 17 Prozent. Die CSU in Bayern hält die AfD einigermaßen in Schach. Sollte die CDU sich daher nicht politisch ein bisschen mehr Richtung CSU bewegen?

Jetzt konzentrieren wir uns doch erst einmal darauf, im Wahlkampf so viele Menschen wie möglich mit unseren Argumenten zu erreichen und warten dann die Wahlergebnisse ab …

17 Prozent AfD ...

Noch einmal: Warten wir die Ergebnisse ab. Mir ist völlig bewusst, dass die Menschen derzeit noch nicht das Gefühl haben, dass wir alles schon perfekt im Griff haben. Und ich weiß auch, dass das Flüchtlingsthema bis in die Familien hinein heiß diskutiert wird. Das spiegelt sich in den Umfragen wider.

Als Politikerin kann das für mich nur bedeuten, an einer nachhaltigen Lösung der Probleme zu arbeiten. Wenn wir sie in den Griff bekommen, dann wird es ähnlich sein wie bei der Eurokrise. Dann wird die Zustimmung für die Parteien, die nur vom Protest und vom Nein gegen etwas leben, zurückgehen. Und andere Parteien, die gezeigt haben, dass sie zu konstruktiver Arbeit fähig sind, werden wieder mehr Vertrauen bekommen.

Als Bundeskanzlerin sehe ich es als meine Aufgabe an, niemandem vermeintlich schnelle und einfache Antworten vorzugaukeln, die die Enttäuschung um ein Vielfaches größer werden lassen, sobald sie sich als trügerisch herausstellen, sondern an einer dauerhaft guten Lösung für Deutschland und Europa zu arbeiten.

Nach exakt 30 Minuten ist das Gespräch beendet. Vor der Landtagswahl ist die Kanzlerin noch zwei Mal in Sachsen-Anhalt. Am Donnerstag ist sie bei der Festveranstaltung zum 100-jährigen Bestehen des Chemiestandorts Leuna. Am 11. März kommt sie zum Wahlkampfabschluss der CDU nach Magdeburg.