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Handball-Historie Stürmer der ersten Feldhandball-Stunde

30 Titel haben die Handballer des SC Magdeburg bereits erkämpft. Der Grundstein wurde vor 50 Jahren mit dem allerersten Triumph gelegt.

Von Janette Beck 11.05.2017, 01:01

Magdeburg l Zurück in die Handball-Vergangenheit des SC Magdeburg: Wolfgang Gensicke öffnet die Tür zu seiner kleinen Wohnung in der Magdeburger Seniorenresidenz „Am Krökentor“. Im Flur fällt der Blick sofort auf einen grün-roten Fanschal an der Garderobe. Es duftet nach Kaffee. In der Küche hat der schlanke Rentner, dem man sein Alter von 79 Jahren wahrlich nicht ansieht, bereits alles für die „Sportreporterin von der Zeitung“ vorbereitet. Auch eine Glasschüssel mit Pralinen hat er bereitgestellt. „Ein Gentleman alter Schule weiß, was sich gehört“, erklärt der Senior und zwinkert mit wachsamen Augen, die einem herausfordernd ins Gesicht schauen.
Es ist dem charmanten alten Herrn sofort abzunehmen, dass er, wie er später aus dem Nähkästchen plaudert, „als junger Dachs“ und „erfolgreiche Sportskanone“ ein Herzensbrecher war. Einer, der in seiner Sturm- und Drangzeit „so schnell nichts anbrennen“ ließ. Und amüsant wie tragisch ist es, dass ihm dies auch in seiner Zeit als Handballer zum Verhängnis wurde. „Ich bin leider nur auf zwei Einsätze in der Nationalmannschaft gekommen. Heute kann ich über den Grund lachen: Ich habe mit der Freundin des damaligen Nationaltrainers Heinz Seiler wohl zu heftig geflirtet. Das hat er mir offensichtlich übelgenommen, denn danach wurde ich nie wieder in die Auswahl berufen.“
An der Wand im gemütlich eingerichteten Wohnzimmer hängt ein vergilbtes Mannschaftsfoto in Schwarz-Weiß. Es zeigt jene Spieler des SC Magdeburg, die 1967 Meister wurden. Auf dem Tisch liegt ein braunes Foto-Album. Und während Wolfgang Gensicke weiter in seinen Erinnerungen gräbt, streichen die hageren Hände andächtig über das Buch, das er anlässlich des Besuches herausgekramt hat. Darin sind nicht nur Fotos aus seiner aktiven Zeit als Handballer verewigt, sondern auch alte Zeitungsausschnitte, Urkunden sowie persönliche Notizen. Was fehlt, sind konkrete Daten. Deshalb kann der Magdeburger nicht sagen, wann genau er mit dem SCM 1967 den Titel „Deutscher Feldhandballmeister der DDR“ – so hieß es damals offiziell – erkämpfte: „Es muss Ende April, Anfang Mai gewesen sein“, vermutet er.
Da irrt der gute Mann, wie nachträgliche Recherchen ergaben. Damals startete die Saison im Feldhandball nämlich erst im Frühjahr. Witterungsbedingt, versteht sich. Heißt, am 20. April 1967 begann just die historische Spielzeit der Magdeburger Oberliga-Handballer, die nach nur drei Monaten am 15. Juli – nach einem 14:10-Sieg bei Wismut Aue zwei Spieltage vor Saisonende – im vorzeitigen Titelgewinn gipfelte. Die offizielle Meisterschaftsehrung am 22. Juli im Ernst-Grube-Stadion, dem letzten Spieltag (der SCM hatte vor 2000 Zuschauern gegen den SC Leipzig mit 16:11 gewonnen), war die Krönung einer fulminanten Siegesserie. Eine Erfolgsserie des SCM, die 50 Jahre später stark an die aktuelle der Magdeburger Bundesliga-Handballer erinnert. Unter seinem jetzigen Trainer Bennet Wiegert feierte der Club gerade das 21. Spiel in Folge ohne Niederlage. Im EHF-Cup winkt der 31. Titel. Und heute wie früher ist Abwehr das Prunkstück der Magdeburger. Manche Dinge ändern sich zum Glück nie.
Die Mannschaft von damals, trainiert von Bernhard „Akki“ Kandula, einem Gesenk-Schmied, der sich im Fernstudium zum Trainer qualifizierte, hatte gar von 18 Spielen auf dem Großfeld nur zwei verloren. Und die auch nur knapp. Gensicke erinnert sich: „Wir waren in dieser Saison unschlagbar. Fast jedenfalls. Da war eine dufte Truppe zusammen. Bis auf einen alles Magdeburger.“ Sein Lieblings-Mitspieler sei Udo Röhrig gewesen. „Ein toller, pfiffiger Handballer. Spielmacher würde man wohl heute sagen. Mit ihm habe ich gerne zusammengespielt.“
Auch sonst hätten sich alle super verstanden und geschlossen so manches siegreiches Spiel in der Stammkneipe „Hohe Tritt“ in Magdeburger Stadtteil Stadtfeld mit einem Bierchen begossen. Auch die gemeinsamen Herrentags-Sausen waren legendär. „Unser Trainer immer mit dabei. Er war ein Guter.“ Mit 38 Lenzen im Meisterschaftsjahr sei er noch ein sehr junger Coach gewesen, erinnert sich Gensicke, „aber wie er es in dieser besagten Saison geschafft hat, aus uns eine so tolle, konkurrenzfähige Mannschaft zu formen, das war der Wahnsinn“.
Was Wolfgang Gensicke nebenbei erwähnt: Auch er selbst hatte maßgeblichen Anteil am ersten Titelgewinn der Grün-Roten. Der Ur-Magdeburger, der zur ersten Männermannschaft von Motor Mitte Magdeburg gehörte, die 1955 geschlossen zum SC Aufbau Magdeburg wechselte und dort die Handballabteilung des späteren SCM begründete, war Torjäger. Er sagt von sich: „Ich war Stürmer.“ Und als solcher hat er es in seiner aktiven Zeit auf zwei ganz beachtliche Zahlen gebracht: 613 Spiele, 2145 Tore. „Ich weiß das so genau, weil unser damaliger Mannschaftsbetreuer und Freund Heinz Herke sich anlässlich meines Karriereendes mal in einer Mußestunde hingesetzt hatte, um alles zusammenzuzählen.“
Die Statistik möge geschönt wirken, „aber es kommen so viele Spiele und Tore zusammen, weil wir in einer Saison stets im Feld- und im Hallenhandball parallel am Start waren“, klärt Gensicke auf. „Wir haben mittwochs und am Wochenende gespielt. Englische Wochen waren ganz normal.“
Und nicht nur das scheint heute unvorstellbar. Vieles, was der alte Handball-Kämpe erzählt, klingt wie ein Sport- Märchen aus einer längst vergangenen Zeit: Zum Beispiel, dass fast alle Mitspieler einer geregelten Arbeit nachgingen oder studierten. Trotzdem wurde zweimal am Tag trainiert. 7,50 Mark „Tagegeld“ habe es pro Nase gegeben, wenn es mit dem Ikarus-Bus zu Auswärtsspielen ging. „Wir haben im wahrsten Sinne des Wortes für ‘n Appel und ‘n Ei gespielt“, sagt Gensicke, der später als Diplom-Ingenieur im Sket und nach der Wende als technischer Direktor im Sauerland Karriere machte.
Ebenso schwer vorstellbar ist es, dass er mit 1,81 Metern einer der größten Spieler im Team gewesen war. Oder, dass Stollenschuhe in die Sporttasche eines Feldhandballers gehörten und teilweise auf Hartplätzen gespielt wurde. Gensicke lacht: „Unser an der Bodestraße, wo die meisten Heimspiele ausgetragen wurden, war wirklich legendär und gefürchtet.“
Auch dass im Feldhandball lange Zeit Abseits gepfiffen wurde und die Zweikämpfe auf dem Großfeld nahezu ohne Körperkontakt ausgetragen wurden, klingt irrwitzig. „Ich hatte in meiner aktiven Zeit nicht eine einzige schwere Verletzung.“ Was da heute so auf dem Handballfeld passiere, sei erschreckend. „Nur Rupperei. Und ständig ist jemand verletzt, manchmal sogar schwer. Wir waren zwar auch nicht zimperlich, aber wir sind immer fair miteinander umgegangen.“ Der Profihandball von heute sei eben eine ganz andere Welt: „Deswegen schaue ich mir auch kaum noch ein Spiel an, und privat spiele ich lieber Golf.“
Die Frage, wann er das letzte Mal in der Getec-Arena gewesen sei oder bei seinem alten Verein vorbeigeschaut habe, beantwortet der Handball-Meister von einst mit einem Schulterzucken. „Irgendwann wurden einige Altvordere mal eingeladen. Da habe ich gemerkt: Das ist alles nicht mehr meins. Die Verantwortlichen vom SCM sind natürlich alles neue Leute. Mich kennt da eh keiner mehr – und umgekehrt. Und mit der Traditionspflege haben sie es wohl nicht so, habe ich gehört.“
Traurig wird Wolfgang Gensicke gar, als die Sprache auf das Jubiläum kommt. „Das wird wohl nicht gefeiert. Leider. Viele der alten Mitstreiter leben zwar noch, sind agil, das ist nicht das Problem. Aber irgendwie, irgendwann haben wir uns alle aus den Augen verloren. Nach dem Tod von Heinz Herke habe ich noch ein paar Mal versucht, etwas anzuleiern, aber das war alles sehr mühselig.“
Vielleicht habe das aber auch etwas damit zu tun, dass die Meister-Truppe von damals mit einem schweren Schicksalsschlag zu kämpfen hatte, vermutet Gensicke. Bernhard Kandula, der Meistertrainer, starb nämlich nur wenige Monate nach dem Triumphzug. Am 16. November 1967 in Berlin. In der Kabine erlitt der damals 38-Jährige kurz vor Anpfiff des Punktsspiels gegen den SC Dynamo einen Herzinfarkt. „Das Schlimmste daran war“, schüttelt Gensicke energisch den Kopf, als wolle er die bösen Gedanken vertreiben: „Der damalige Sportchef der DDR, Manfred Ewald, war in der Halle. Und er zeigte sich gnadenlos, wir mussten spielen. Natürlich haben wir haushoch verloren.“
Das tragische Ereignis habe die gesamte Mannschaft völlig aus der Bahn geworfen: „Danach war nichts mehr wie vorher. Die Saison war für uns gelaufen, der Ruhm verwelkt. Und für mich, der mit 30 Jahren immer öfter auf der Bank saß statt Tore zu jagen, stand fest: Ich höre auf und konzentriere mich auf meine berufliche Laufbahn.“
Was Wolfgang Gensicke am Ende bleibt, ist das Mannschaftsbild an der Wand und ein Fotoalbum voller schöner Erinnerungen. Sowie der Stolz darauf, dass seine Mannschaft, sein Trainer „Akki“ und er es vor 50 Jahren waren, die mit dem ersten Titel für den Sportclub Magdeburg eine Erfolgsspur gelegt haben, die sich nie verloren hat.