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Jugendwerkhof DDR Ehms: „Das hat mein Leben geprägt“

Torsten Ehms verbrachte drei Jahre im Jugendwerkhof Burg, dem größten Jugendwerkhof der DDR. Eine Zeit, die ihn bis heute begleitet.

07.04.2017, 23:01

Als er 14 Jahre alt ist, fahren seine Eltern mit ihm in den Urlaub. Einfach so, nach Rügen, Ostseeluft schnuppern. Vorerst zum letzen Mal. Denn für Torsten Ehms endet dieser Urlaub im Jugendwerkhof Burg. Seine Eltern werden ihn dort hinbringen. Ob freiwillig oder weil sie eine entsprechende Weisung des Jugendamtes erhalten haben, weiß er nicht. Bis heute hat er kaum Kontakt zu seinen Eltern. Über seine Zeit im Jugendwerkhof Burg haben sie nie gesprochen, den Bruch in der Familienbeziehung bis heute nicht gekittet.

Im Jugendwerkhof Burg wird er bleiben, bis er 18 Jahre ist und laut DDR-Gesetz die Volljährigkeit erreicht hat. Und dann wird es nie mehr so sein, wie es mal war.

Torsten Ehms ist einer von knapp 120.000 Jugendlichen, die in der Zeit von 1949 bis 1989 im Jugendwerkhof Burg untergebracht war. Hierher kamen junge Menschen im Alter von 14 bis 18, die aus schwierigen Familienverhältnissen kamen oder in der Gesellschaft auffielen, weil sie kriminelle Delikte begingen, die Schule schwänzten, sich auf den Straßen herumtrieben oder sich gegen das politische System auflehnten, so wie Torsten Ehms. „Ich hatte keine Lust, dieses Russisch zu lernen“, sagt er. „Englisch hat mir viel mehr Spaß gemacht. Ich habe meinem Lehrer gesagt, dass ich nur noch Englischunterricht machen will, weil ich meinen Freund verstehen will, und nicht meinen Feind. Damit war ich dann vorgemerkt, quasi auf der Liste der bösen Jungs.“

Erschwerend kommt hinzu, dass er beim Schulsport wohl etwas zu dynamisch zu seinem Sportlehrer in den Box-Ring steigt. Der Kampf endet fast mit einem K. o. Der Sieger ist 13 Jahre alt und trainierter Boxer. Der Verlierer: ein Sportlehrer mittleren Alters, der nicht nur um Luft, sondern auch um Haltung ringen musste. „Ich war schon immer ein unruhiger Typ. Laut und sehr agil. Ich habe nicht absichtlich so hart zugeschlagen. Aber ich war ja vorgemerkt. Mir hat niemand geglaubt.“

Er sagt das mit einem Schulterzucken. So, als sei’s ihm egal. Dass es ihm nicht egal ist, merkt man daran, dass Torsten Ehms, der sonst sehr gesellig ist, plötzlich ernst wird. So ernst, dass man sich fragt, ob man noch der gleichen Person gegenübersteht, die bis eben mit einem noch Späße getrieben hat.

Und dann fängt er an zu erzählen, warum er bis heute nachts nicht schlafen kann, Angst vor engen Räumen hat und warum er mit seiner Lebensgeschichte an die Öffentlichkeit geht, so kürzlich in der Gedenkstätte am Moritzplatz in Magdeburg. Im Rahmen der vom Dokumentationszentrum des Bürgerkomitees Sachsen-Anhalt organisierten Gesprächsrunde zur Heimerziehung der DDR im Vergleich zu westdeutschen Heimen steht Torsten Ehms neben anderen Betroffenen als Zeitzeuge zur Verfügung.

„Ich will, dass die Menschen aufhören zu denken, wir Heimkinder seien alle Verbrecher gewesen“, sagt er. „Und ich will, dass die Gesellschaft anfängt, diesen Teil der Geschichte zu akzeptieren, damit sie aufgearbeitet werden kann. Damit die Betroffenen rehabilitiert werden können. Damit sie nachts wieder schlafen können. Und mit damit nie wieder so etwas passiert.“

Aber die Aufarbeitung der Heimgeschichte der DDR ist schwer. Zu viele Fragen stehen im Raum. Fragen, auf die es keine Antworten gibt, weil Akten und damit Beweismaterial verschwunden und viele Verantwortliche von damals nicht bereit sind, diese Antworten zu geben. „Ich denke, das ist eine Art Geschichtslast, die wir mit uns herumtragen. Die Heimerziehung in der DDR, das ist nichts, worauf man stolz sein kann, sondern eine Wunde. Über Wunden spricht man nicht gerne“, versucht sich Birgit Neumann-Becker, Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, in einer Erklärung für die Distanz ehemaliger Erzieher.

„Vielleicht ist das aber auch eine Art Verweigerung und der ein oder andere klebt noch am alten Weltbild. Vielleicht liegt das aber auch am Sozialismus, da kann man nicht so gut mit dem Thema Schuld umgehen.“

Dabei geht es genau um das Thema Schuld, wenn ehemalige Heimkinder wie Torsten Ehms über ihre Erinnerungen sprechen. Denn nur, wenn die Betroffenen Beweise haben, dass sie unschuldig in die Heime eingewiesen worden sind, nur dann haben sie eine Chance auf politische Rehabilitation, darauf, dass ihnen die Last der Schuld von der Schulter genommen wird.

Auch Torsten Ehms will die Last der Vergangenheit loswerden. 30 Jahre ist es jetzt her, dass er in den Jugendwerkhof Burg eingewiesen wurde. Die Schule durfte er nicht beenden. Im Jugendwerkhof gab es nur die Berufsschule - obwohl auch zu DDR-Zeiten eine Schulpflicht für alle bis zum 18. Lebensjahr rechtlich verankert war. Besonders mürbe machte ihn die Hackordnung, die unter den Gleichaltrigen herrschte. Der Stärkste hatte das Sagen. „Und wer das Sagen hatte, bestimmte auch, wer in der Nacht Dresche bekommen sollte“, erinnert sich Torsten Ehms.

Denn in der Nacht wurden in den Jugendwerkhöfen die Dinge geregelt, die sich tagsüber nicht regeln ließen: Wer hat seinen Schrank oder sein Bett bei der täglichen Zimmerinspektion nicht zur Zufriedenheit der Erzieher zurechtgemacht? Wer ist also verantwortlich dafür, dass der Gruppe Strafarbeiten auferlegt worden? „Der Schuldige wusste dann schon den ganzen Tag, dass er nachts nicht ungeschoren davonkommt. Das war psychisch der reine Horror. Und nachts ging dann die Post ab. Es waren keine Erzieher da, nur zwei Wachleute, die aber nichts bewirkt haben.“

Sein größter Vorwurf richtet sich an die Erzieher, die die Jugendlichen in seinen Augen nachts im Stich gelassen haben. „Wir haben gemerkt, dass dort was abgeht. Aber hätten wir eingreifen können?“, fragt sich bis heute eine ehemalige Erzieherin, die ihren Namen und ihr Bild nicht in der Zeitung sehen will, im Rahmen der Aufklärung aber auf die Vorwürfe ehemaliger Heimkinder reagieren möchte. „Die Situation ist ähnlich wie im Fernsehen in einem Gefängnis. Wenn da einer geschlagen wird, erzählt der das nicht. Und so war es hier auch. Die haben gesagt: Ich bin gestürzt, so in der Art. Wir haben versucht, dem nachzugehen und zu schauen, was passiert ist. Aber das war sehr schwer. Selbst die, die es erwischt hat, haben aus Angst nichts gesagt. Die waren ja in der nächsten Nacht wieder allein.“

Ein anderer Erzieher, der ebenfalls anonym bleiben möchte, äußert sich auch zu den Vorwürfen. „Dass wir die Jugendlichen nachts alleine gelassen haben, ist der größte Vorwurf, den man sich heute machen muss. Wir wussten, dass dort nachts was los ist. Aber ich glaube, wir hatten keine Vorstellung davon, wie Einzelne sich untereinander gequält haben.“ Worte, die in den Ohren von Torsten Ehms zwar nur ein kleiner, aber wichtiger Trost sind.

Und auch, wenn er nachts immer noch nicht schlafen kann, so hat er doch die Kraft gefunden, sich nach seiner Zeit im Jugendwerkhof ein eigenes Leben aufzubauen, in dem er glücklich ist. Mit seiner Frau, die ebenfalls im Jugendwerkhof Burg einsaß, ist er von Magdeburg nach Erfurt gezogen. Hier arbeitet er jetzt als Industriekaufmann.

Mit seinem Hobby, der Fotografie, will er die Vergangenheit vor sein Objektiv holen, die Welt für einen Moment anhalten und den Menschen zeigen, was ihn bewegt. Mit einer kleinen Gruppe anderer ehemaliger Heimkinder hat er in Magdeburg im Herbst eine erste Fotoausstellung eröffnet. Aktuell ist diese in Brandenburg zu sehen.

Hier findet Torsten Ehms seinen Ausgleich. Das hilft ihm zwar nicht bei seiner Rehabilitation, „aber das ist eine andere Baustelle“, sagt er. „Mit meinen Fotos baue ich mir meine eigene kleine Welt auf, in der mir niemand vorschreibt, wie ich zu leben habe.“

Mehr zu den Jugendwerkhöfen in Sachsen-Anhalt finden Sie auf einer interaktiven Karte.