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Müllfrei leben Und den Rest fressen die Regenwürmer

Sarah Werner aus Magdeburg setzt voll auf Müllvermeidung. Die 31-Jährige öffnet im September den ersten Unverpackt-Laden der Stadt.

Von Emily Engels 17.05.2017, 01:01

Magdeburg l Genau zwei Produkte stehen in Sarah Werners Badezimmer auf einer Ablage neben der Dusche: ein großes Glas Roggenmehl und ein Stück Olivenseife. Die Seife verwendet sie für ihren Körper. Und das Roggenmehl? „Damit wasche ich mir die Haare”, erklärt sie, als wäre es das Normalste auf der Welt. Die 31-jährige Magdeburgerin hat einen Lebensstil, der in Deutschland immer beliebter wird: Sie lebt seit ein paar Jahren so gut wie müllfrei.

In Deutschland gibt es bereits über 40 Unverpackt-Läden. In diesen Geschäften müssen Kunden selber Behälter für ihre Einkäufe mitbringen. Egal, ob Öl, Salz oder Haferflocken: Alles wird ohne Verpackung angeboten und abgewogen. Etwa weitere 30 solcher Läden sind in Planung. Darunter ist auch der Laden von Sarah Werner. Im September soll er im Schellheimer-Kiez in Magdeburger Stadtteil Stadtfeld eröffnen.

„Ich wollte schon immer die Welt retten”, sagt die junge Frau. Dieses Ziel habe die gelernte Sozialpädagogin bei ihrer Arbeit in einem Magdeburger Waldorfkindergarten nur bedingt erreichen können. Nach einem Einkauf in einem Unverpackt-Laden Anfang 2016 in Kiel war sie inspiriert. „Ich bin mit leeren Gläsern und Behältern in den Laden gegangen, habe mir die losen Lebensmittel abgefüllt und bin damit an die Kasse gegangen”, beschreibt sie das Erlebnis, das ihr Leben grundlegend verändert hat. Keine Ablenkung durch bunt bedruckte Verpackungen habe es dort gegeben. Keine Qual der Wahl zwischen 20 Sorten Müsli, sondern die leichte Entscheidung zwischen zwei oder drei.

Wie viele neue Trends, hat auch der Zero-Waste (deutsch: Kein Müll)-Trend einen Trendsetter. Shia Su ist der Name, den wohl jeder in der deutschen Unverpackt-Szene kennt. Auf ihrem Blog wirbt die 33-Jährige für ihr Buch „Kein Müll ist das neue Grün” und gibt dem Einsteiger Tipps zum Leben ohne Abfall.

Dass das möglich ist, beweist sie unter anderem mit einem Foto, das auch ihr Buch schmückt. Sie hält dort ein Glas in die Kamera, in dem sich ein Teebeutel-Etikett, eine Zugfahrkarte, ein leeres Medikamentendöschen und ein paar Bierdeckel befinden – Shia Sus Müll aus einem ganzen Jahr. Von Shia Su hat auch Sarah Werner sich Tipps für das müllfreie Leben abgeguckt. „Angefangen habe ich mit den Dingen, auf die man auch selbst kommen kann”, sagt sie. Etwa Obst und Gemüse lose im Supermarkt kaufen und wiederverwendbare Beutel mit zum Einkaufen nehmen. Oder den täglichen Kaffee auf dem Weg zur Arbeit beim Bäcker in einen Thermobecher abfüllen lassen.

Erst mit der Zeit kam Sarah Werner über Shia Sus Blog „Wastelandrebel” (deutsch: Rebell gegen das Müll-Land) zum Beispiel darauf, ihr eigenes Zahnpulver aus Natron und Birkenzucker selber zu machen, sich eine müllfreie Wattepad-Alternative aus Baumwolle zu nähen, aus Essig und Zitronen einen Allzweckreiniger oder aus Kastanien ein Waschmittel herzustellen.

Doch vollkommen auf Müll zu verzichten, ist auch für Sarah Werner unmöglich. „Da es in Magdeburg bis zur Eröffnung meines Shops noch keinen Unverpackt-Laden gibt, kaufe ich verpackte Lebensmittel wie etwa Haferflocken oder Roggenmehl noch im Bioladen in Großpackungen aus Papier”, erklärt die Müllvermeiderin.

Mit dem Mehl wäscht sie übrigens nicht nur ihre Haare, sondern backt auch ihr eigenes Brot. Denn wer auf Müll verzichten will, merkt schnell, dass er vieles selber machen muss. „Ich mache auch meine veganen Brotaufstriche selbst”, erzählt Sarah Werner. Streng ohne tierische Produkte lebt die Magdeburgerin allerdings nicht. „Ich denke nicht in Schwarz-Weiß, sondern eher in Grautönen.” Sie versucht, so regional, unverpackt, bio und vegan wie möglich zu leben – und das gilt auch für die Produkte, die sie in ihrem Laden anbieten wird. „Das Unperfekt-Sein gehört zu meinem Prinzip”, erklärt sie. Das inspirierte sie auch zum Namen ihres Ladens: Frau Ernas loser Lebensmittelpunkt. Unverpackt. Selbstgemacht. Unperfekt.

Um das Startkapital für ihr Projekt zusammenzubekommen, startete Sarah Werner Anfang April eine Crowdfunding-Kampagne im Internet. Auf einer Website kann dabei jeder, der sich einen Magdeburger Unverpackt-Laden wünscht, einen kleinen Geldbetrag spenden. Jetzt, sechs Wochen später, hat Sarah Werner das Geld schon zusammen. Anfang dieser Woche hat sie ihr Ziel von 13 000 Euro erreicht. Mit dem Geld will sie Einrichtung und die erste Ware kaufen.

Die Ware, die sie im Laden anbieten will, wird in großen Behältern geliefert und in durchsichtige Lebensmittelspender umgefüllt. Kunden bringen meist ihre eigenen Behälter mit, um die Ware abzufüllen. Wer kein Schraubglas zur Hand hat, kann sich an einer Gratis-Wühlkiste mit gebrauchten – natürlich gewaschenen – Gläsern bedienen, die andere Kunden dort hinterlassen können. „Quasi von Kunden für Kunden”, so Sarah Werner.

Beim Einkauf im Unverpackt-Laden geht es immer um mehr als nur Lebensmittel-Beschaffung, erklärt Shia Su. Die Kunden kommen auch wegen des Gemeinschaftsgefühls. „Schon nach dem dritten Einkauf kennt man den Besitzer und kommt mit anderen Kunden ins Gespräch“, sagt sie.

Trotzdem stoßen Unverpackt-Läden irgendwann an eine Grenze. Sarah Werner hat in den vergangenen Monaten viele Unverpackt-Läden in ganz Deutschland besucht, um herauszufinden, wie andere Ladenbesitzer die typischen Probleme mit den konventionellen Großhändlern angehen. „Nudeln sind das Problemkind der Unverpackt-Läden”, sagt Sarah Werner. Denn die werden den Läden derzeit noch in Plastik geliefert, allerdings in Großpackungen. „Das hängt damit zusammen, dass Nudeln ohne Plastikverpackung schnell weich werden”, erklärt sie. Um all diese Probleme gemeinschaftlich zu lösen, gibt es seit Mai eine Gründer-Genossenschaft. Knapp 60 Gründer und Ladenbesitzer haben sich hierbei zusammengeschlossen, um Problemlösungen auszutauschen.

Vermisst man es da nicht manchmal, ohne Nachzudenken in den Supermarkt zu gehen? „Ich habe früher auch sehr gerne Dinge gekauft, die eine hübsche Verpackung hatten, bin quasi auf das Produktdesign hereingefallen”, gibt Sarah Werner zu und klingt dabei wie ein ehemahliger Suchtkranker nach einer erfolgreichen Therapie. Sie habe es sich inzwischen aber abgewöhnt. „Jetzt bekomme ich eine Reizüberflutung, wenn ich in einen normalen Supermarkt gehe”, erzählt sie. Da sei sie nach kurzer Zeit einfach überfordert und genervt.

Und Produkte mit schönem Design? Die kauft sie immer noch – zumindest gelegentlich. Da ist etwa der wiederverwendbare Coffee-to-go Becher mit Katzen-Design oder die Wasserflasche aus Glas mit Panda-Aufdruck. Apropos Panda. Der ist auch auf der Verpackung ihres Klopapiers abgedruckt, das in einer großen Pappbox geliefert wird – aus nachwachsendem Bambus versteht sich. Während andere Müllverzichter wie Bloggerin Shia Su nach dem Toilettengang ein tragbares Bidet benutzen, verwendet Sarah Werner nach wie vor Toilettenpapier.

Trotz der „Unperfektheit” ist Sarah Werner in vielen Dingen bereits ganz nah an ihrem Idol Shia Su. Denn vor kurzem hat sie sich – wie von ihrem Müllverzichts-Guru höchstpersönlich empfohlen – etwas angeschafft, das zumindest Bio-Müll einfach wegfrisst: eine Kiste mit etwa 1000 Regenwürmern. Aus Kaffeesatz und Kartoffelschalen wird darin Erde, die sie für die Anpflanzung von Kräutern auf ihrem Balkon verwendet. Die Wurmkiste steht bei ihr in der Küche. Gäste, die nicht aufpassen, sitzen auch schnell mal auf ihr drauf. Denn erst beim zweiten Hinschauen sieht man die kleinen Löcher, durch die die Würmer mit Sauerstoff versorgt werden. Von oben sieht die gepolsterte Kiste aus wie ein Hocker – und riecht genausowenig unangenehm wie die Frau, die sich mit Roggenmehl die Haare wäscht.