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Zoologie Das bizarrste aller Säugetiere

"Entenbiber" und andere Kostbarkeiten werden in den Zoologischen Sammlungen der Universität Halle aufbewahrt.

Von Dana Micke 24.07.2016, 05:00

Halle l Dr. Karla Schneider schließt die Tür zu einem riesigen fensterlosen Saal auf. Helles Licht in den großen Kugellampen flackert auf, links an der Wand stehen zwei Meter hohe Vitrinen, reihen sich den 50 Meter langen Flur eng aneinander. „Hier ist die Welt der Säuger“, sagt die Zoologin, schließt eine der 180 Jahre alten Stahlvitrinen auf und holt ein Schnabeltier aus Australien heraus. Der Körper erinnert an einen Biber, an den Füßen hat das Tier ausgebildete Schwimmfüße, statt einer Schnauze einen Schnabel.

Teils Säugetier, teils Reptil, teils Vogel: Das Schnabeltier ist das bizarrste aller Säugetiere. Es wirkt wie ein Unfall der Evolution. Liebevoll streichelt die Zoologin das uralte Präparat und sagt: „Der Hallenser Anatom Johann Friedrich Meckel sezierte zwei Schnabeltiere und veröffentlichte 1826 seine Befunde zur Anatomie. Spektakulär war, dass er Milchdrüsen entdeckte. Die genetischen Grundlagen zur Milchproduktion sind schon vor mehr als 166 Millionen Jahren entstanden und von den Schnabeltieren bis hin zum Menschen einheitlich organisiert.“

Was für manche ein Beweis ist, dass Gott auch Sinn für Humor hat, ist für Evolutionsgenetiker sehr wertvoll. Denn das Schnabeltier ist ein einmaliges Relikt aus der Vergangenheit: Es legt Eier wie ein Vogel und „säugt“ ohne Zitzen trotzdem seine Jungen wie ein Säugetier. „Das Säugen mit Milch wurde die treibende Kraft in der Evolution der Säugetiere.“

Die Zoologischen Sammlungen der Martin-Luther-Universität in Halle gehören weltweit zu den ältesten Institutionen ihrer Art. 1769 als universitäres Naturalienkabinett gegründet, ist es das älteste und umfangreichste naturkundliche Depot in Sachsen-Anhalt. „Als Demonstrationsobjekt für Forschung und Lehre genutzt, haben Ende des 19.   Jahrhunderts die Professoren viele dieser Objekte ins Institut geholt, sie mit den Studenten seziert und präpariert.“

Die Sammlung lebt. „Wir sammeln ständig. Der Grundgedanke ist über die zweieinhalb Jahrhunderte aufgebaut, dass man das gesamte zoologische System vom Einzeller bis zum Säugetier demonstrieren kann, damit man einen Rundgang durch das Tierreich hat, und das nicht nur im europäischen Maßstab, sondern weltweit“, schwärmt Karla Schneider.

Inzwischen lagern hier an die fünf Millionen Präparate, davon allein fast drei Millionen Insekten. Darunter auch die drittgrößte oologische Sammlung der Welt. Oologie? „Ist die Vogeleierkunde. Forscher Max Schönewetter hat 19 200 ausgeblasene Eier zusammengetragen. Dieser Fundus gehört ebenso wie eine Sammlung von Schmarotzerinsekten seit 2012 zum nationalen Kulturgut!“

Das Sammlungsmagazin am Domplatz in Halle ist in seinem Ambiente aus dem 19. Jahrhundert erhalten geblieben. Kleinod deutscher Museumslandschaft. „Der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft stehen mehrere tausend Typusexemplare – die Grundeinheiten der zoologischen Namensgebung –, fast ein Dutzend ausgestorbener Tierformen, hunderte von faunistischen Erst- und Seltenheitsnachweisen und wissenschaftshistorische Unikate für Forschungsfragen zur Verfügung.“ Deutschlandweit und international ist das Depot bei der Erstellung und Bearbeitung von Roten Listen, Rotbüchern, Checklisten sowie Arten- und Biotopschutzprogrammen nicht mehr wegzudenken.

Seit über fünf Jahrzehnten werden hier die Todesursachen vom Aussterben bedrohter heimischer Wirbeltiere ermittelt, heute ausgestattet mit 1000 Belegstücken vom Biber und 900 Belegen vom Fischotter, Uhu, Seeadler & Co.: „Biotopveränderungen, Verkehrsunfälle, Schussverletzungen und Parasiten etwa können zum Tode führen. Mittlerweise aber auch Windräder. Die Tiere geraten in die Rotorblätter, werden geschreddert.“ Und genau da kann sich die Zoologin in Rage reden.

Macht sie jetzt aber nicht. Denn: Immer wieder klingelt das Telefon. Es gibt Anfragen von Wissenschaftlern, aber auch von Otto-Normalbürgern. Das Gespräch beginnt oft mit: „Sie sind doch Spezialistin für...“ Die 61-Jährige wehrt ab. Ihre Diplomarbeit hat sie über Schnecken geschrieben, dann promoviert über Insekten, die Rüsselkäfer.

Übrigens: Die kleinste Abteilung der zoologischen Sammlungen ist hier den Insekten vorbehalten, dabei stellen sie die größte Artenvielfalt dar. Käfer, Schmetterlinge, Libellen oder Heuschrecken liegen fein säuberlich aufgespießt in über 500 Schubladen. 1994 begann Karla Schneider hier als Kustodin für wirbellose Tiere, seit 2011 ist sie in dieser Funktion für die gesamten zoologischen Sammlungen zuständig.

Hat sie ein Lieblingspräparat? „Ja, zurzeit ist es eine Wölfin mit einem schönen Winterfell, 2012 bei einem Verkehrsunfall auf der A2 gestorben. Trotzdem war das Tier so gut erhalten, dass wir eine Dermoplastik daraus machen ließen.“ Dermoplastik? „Ja, mit einem festen Polyurethan-Schaum modelliert man den Tierkörper exakt nach den zuvor gemessenen Proportionen.“ Anschließend wird das gegerbte Fell aufgeklebt und vernäht.

„Eigentlich wollte ich einen ganz anderen Wolf hier aufgestellt haben“, sagt Karla Schneider. Und zeigt nun den ersten von 2009, der hier einging. „Aus Versehen“ erschossen, wie es heißt. Egal, dieser Wolf hat hier den Startschuss gegeben. Karla Schneider streicht auch hier liebevoll übers Sommerfell, ein struppiges Exemplar. Das lagert mit Seidenpapier unterlegt auf einem Metallrost. Die Wölfe werden nämlich nicht im Stück, sondern zweigeteilt aufbewahrt. Getrennt in Fell und Knochen. „Wir haben jetzt bereits 14 Wölfe hier.“ Ginge das so weiter, wären es in zehn Jahren mehr als doppelt so viele. Und um die alle in Lebensgröße unterzubringen, fehlt der Platz.

An Nachschub mangelt es nicht. „Wir haben noch vier nicht-präparierte Tiere in der Kühltruhe“, sagt Karla Schneider. Manchmal kommt es vor, dass sie einen Wolf im Kofferraum hat, tief gefroren. „Irgendwie müssen die ja zu uns kommen.“

Nachdem die Rudeltiere seit 1904 in Deutschland als ausgerottet galten, wanderten sie knapp 100 Jahre später wieder ein. Zuerst in die Lausitz, ab 2008 auch nach Sachsen-Anhalt. „Wir bauen da gerade einen eigenen Bestand auf.“ Seit die Raubtiere nämlich wieder bei uns heimisch sind, kommt jeder Wolf, der hierzulande stirbt und gefunden wird, zu ihr.

In Märchen, Sagen, Legenden und Mythen ist der Wolf die reine Verkörperung des Bösen. Mit einer Aura des Schrecklichen. Über Jahrhunderte gejagt. „Es ist eine Tradition, dass wir heimische Arten sammeln und insbesondere jene, die gefährdet sind“, so die Kustodin.

Schon jetzt ist so eine Sammlung entstanden, die es nicht oft in Deutschland gibt. „Wir nehmen viele Daten wie Größe, Alter und Gesundheitszustand auf. Diese Informationen können später Auskunft über die Entwicklung der Wolfspopulation in Sachsen-Anhalt geben. Und vielleicht auch in vielen Jahren mal Fragen beantworten, die wir uns heute noch gar nicht stellen.“

Das Depot ist über drei Stockwerke verteilt. Zu den obersten Räumen haben nur die Forscher Zutritt. Der Schauteil ist in den beiden Sälen im Erd- und Obergeschoss und in den Fluren untergebracht. Eine Schautafel im Flur zeigt das zoologische System, den Stammbaum des Lebens mit seinem Artenreichtum. Im Gang des Säuger-Saals hangelt sich ein Orang-Utan durch die Luft, eine Hyäne fletscht die Zähne, ein afrikanisches Elefantenskelett besticht durch seine Größe.

Ein Rundgang im Schnelldurchlauf ist mit Karla Schneider schwer möglich. Weiß sie doch zu vielen Präparaten Geschichten zu erzählen. Etwa: Warum in der Evolution klein clever ist... Alles wissenschaftlich fundiert, verständlich vorgetragen. So begeistert sie in Seminaren Studenten und in Rundgängen Schulklassen. Was zieht beim jungen Publikum? „Trotz digitalen Zeitalters die Haustierkunde, am besten Säugetiere, aber selbst Insekten“, so Karla Schneider. Ein wunderbares Archiv der Natur lockt.