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DDR-Musik „Auftrittspappe“ war lebenswichtig

Vor 30 Jahren, am 15. November 1986, präsentierten sich Musiker des Kreises Wernigerode vor einer Kommission: für eine "Auftrittspappe".

Von Ivonne Sielaff 15.11.2016, 00:01

Wernigerode l Die Einstufung war für einen Amateurmusiker zu DDR-Zeiten überlebenswichtig. Sie kam einer Spielerlaubnis gleich. Ohne sie durften Bands und Liedermacher nicht auftreten. Erteilt wurde sie von einer Kommission beim Kreiskulturkabinett, die die künstlerische Qualität prüfte und das Honorar festlegte. Die Kommission konnte die Einstufung auch verweigern – beispielsweise wenn die Liedtexte zu systemkritisch waren.

Am 15. November 1986, vor genau 30 Jahren, fand für den Kreis Wernigerode eine solche Einstufung statt. Die Teilnehmer von damals sind in der Wernigeröder Musikszene noch heute bekannt. Die Harzer Volksstimme hat sie aufgespürt.

„Die Einstufung erfolgte alle paar Jahre“, erinnert sich Friedmar Quast. Der heutige Chef des Wernigeröder Jazzclubs hatte sich in den 1980er Jahren als Lieder- und Chansoninterpret seiner Vorbilder Jacques Brél, Klaus Hoffmann, Stephan Sulke und Hermann van Veen einen Namen gemacht. „Zum Glück brauchte man vor den Auftritten im Kreis Wernigerode seine Texte nicht einzureichen. In anderen Kreisen wurde das in dreifacher Ausfertigung verlangt.“

Friedmar Quast erhielt seine Genehmigung, durfte 25 DDR-Mark pro Auftritt nehmen und erhielt noch einmal 15 Mark für die Abzahlung seines Instrumentes.

„Wir waren in jener Zeit als Liedermacherduo Hardam/Spormann unterwegs“, sagt Burkhard Spormann. Das Vorspielen für die Einstufung habe im Keller „Schiefes Haus“ stattgefunden. „Ich glaube, wir durften maximal 30 Mark Honorar einstreichen.“ Das Duo trat in jener Zeit oft im „Schiefen Haus“, im Kulturbund Forckestraße, in vielen Betrieben zu den unterschiedlichsten Anlässen und in den Jugendclubs anderer Städte auf.

„Gern erinnern wir uns an die Chansontage im Kloster Michaelstein und in Langeln“, so Spormann. Der Großteil der Jugendlichen habe Mitte der 1980er Jahre vorwiegend die Musik im Westradio gehört, heißt es in den Erinnerungen von Ralf Mattern. „Trotzdem begann sich die Jugendszene etwas aufzudröseln: Es gab Punks, Metaller und andere Langhaarige. Die Popper waren zahlenmäßig die stärkste Jugendszene.“ Damals habe es im Kreis eine Metalband und eine Rock-Coverband gegeben. Dazu noch einige Liedermacher und eine Folkgruppe, so Ralf Mattern.

„Ich habe damals Tanzmusik gemacht“, erinnert sich Steffen Blauwitz. „Die Kommission saß wie im Podium, und wir haben vorgespielt.“ Er sei auf fünf Mark pro Stunde eingestuft worden, dazu gab es 70 Mark Anlagengeld für alle und Fahrtkosten nach Kilometern.

Ralf Mattern versuchte vor 30 Jahren, als Liedermacher mit politischen Texten Fuß zu fassen. Im Frühjahr 1986 musste er erstmals vor der Kommission vorspielen. Etwa eine halbe Stunde lang präsentierte er selbst geschriebene Songs aus seinem Programm „Trotzige Träume“.

Die Kommission habe aus Leuten des Kreiskabinetts für Kulturarbeit und einem Profi-Musiker bestanden, erinnert sich Mattern. Dazu „ein Mensch, der sich nicht näher vorstellte und von dem man ahnte, woher er kam“. Er sei gefragt worden, ob er wegen seiner langen Haare „etwas mit der Blueser-Szene zu tun“ hätte. Die Kommission habe ihm nahe gelegt, „mal Zugeständnisse zu machen - und nicht nur Protest. Mal was Lustiges oder so.“ Die Kulturpolitik der DDR könne seine Musik nicht fördern. Sie habe keine Perspektive. Die Spielerlaubnis wurde ihm verweigert.

Danach habe ihn Musikerkollege Wolf-Dieter Skibba zur Seite genommen. „Er schlug mir vor, dass ich es in einem halben Jahr mit anderen Liedern neu versuchen solle. Er beriet mich bei der Songauswahl.“

Die „Auftrittspappe“ erhielt Mattern schließlich im zweiten Anlauf mit einem „entschärften“ Programm – an jenem 15. November 1986. Kurz drauf gründete Mattern die Band „Flexibel“, um sich als Gitarrist mit seinen kritischen Songtexten hinter dem Sänger „verstecken“ zu können. Die Auftrittsgenehmigung gab es 1987, die Bandmitglieder wurden bis zur Wende von der Stasi bespitzelt, die Spielerlaubnis im Juli 1989 entzogen.

Rainer Hochmuth musste sich der Kommission ebenfalls im Frühjahr 1986 vorstellen. „Ich habe Auszüge aus meinem Programm ‚Leidenschaften‘ gespielt.“ Die Stimmung im Jugendclub „Keller Schiefes Haus“ sei gut gewesen. „Ich konnte im Anschluss viel Lob einheimsen.“

Es sei aufregend gewesen, sich einer Einstufungskommission stellen zu müssen, zumal er „einige recht kritische Texte“ vortrug, so Rainer Hochmuth. Nach ausgiebiger Beratung sei das Ergebnis verkündet worden. „Ich bekam das Prädikat ‚ausgezeichnete Qualität‘.“ Dieses berechtigte ihn zu einer Gagenforderung von 26 Mark pro Auftritt – zuzüglich Fahrtkosten und Zuschlägen. „Wirklich Geld verdienen konnten bei uns nur die Profis der Tanzmusik und vor allem die Diskotheker.“