1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Politik
  6. >
  7. "Ukraine ist permanent unter Druck"

Interview "Ukraine ist permanent unter Druck"

Mit einer Abordnung des Europäischen Parlaments besuchte SPD-Parlamentarier Arne Lietz (Wittenberg) kürzlich die Ukraine.

Von Steffen Honig 01.08.2015, 01:01

Volksstimme: Als Mitglied im Menschenrechts- und Außenausschuss waren Sie in einer Doppelfunktion in der Ukraine. Mit welchem Ziel?

Arne Lietz: Bei den Menschenrechten interessierte uns besonders der Minderheitenschutz, etwa das Recht auf Grundversorgung und Unversehrtheit in der Kriegsregion im Osten. In der Ukraine gibt es 1,3 Millionen Kriegsflüchtlinge, mehr als die Hälfte der Bevölkerung von Sachsen-Anhalt. Ein weiterer Schwerpunkt war die Lage der Krimtataren. Diesen wurde auf der Krim ein Presseverbot auferlegt, viele Tataren verschwinden einfach, weil sie von Russland zum Militärdienst eingezogen werden. Außenpolitisch ging es um die Beziehungen zur EU.

Im Herbst stehen Regional-und Kommunalwahlen an. Wie wird die EU die Abstimmung begleiten?

Wir als EU-Abgeordnete werden uns für eine europäische Beobachtungsmission einsetzen. Denn mit dem Erfolg der Wahlen steht und fällt die Erfüllung des Minsk-II-Abkommens. Wir hatten dazu in der Rada, dem ukrainischen Parlament, Gespräche – auch mit der Opposition.

Wie haben Sie die Stimmung in der Ukraine empfunden – in Richtung Resignation oder Aufbruch?

Ich sehe das Land im Aufbruch. Das wird sichtbar an den verschiedensten Reformvorhaben, die in einem unglaublichen Akkord durch das Parlament gebracht werden.

Zum Beispiel?

Die Dezentralisierung, also die Stärkung der Regionen. Hier  ist Polen der Berater, das mit seinen Wojewodschaften das Vorbild bildet. Außerdem werden beispielsweise immer mehr Anti-Korruptions-Büros eingerichtet, um dem Hauptmakel der politischen und gesellschaftlichen Situation beizukommen. Für die Korruption im Alltag steht bisher die Polizei. Deshalb haben USA und Kanada in Kiew eine neue Polizeitruppe ausgerüstet und ausgebildet. Das Ganze geschieht unter der weiter existierenden Bedrohung, in der Ostukraine gibt es täglich tote und verletzte Soldaten. Das Land ist praktisch unter permanentem Druck.

Auch die Wirtschaft liegt am Boden ...

Das zeigt sich darin, dass das Bruttoinlandsprodukt um 19 Prozent zurückgegangen ist. Ein Riesenproblem droht im Winter: Es sind nach gescheiterten Verhandlungen mit Russland bis jetzt nur zehn Prozent der Gasversorgung gesichert. Ich habe mit vielen jungen Menschen aus der Ostukraine gesprochen, die geflohen sind und sich anderswo angesiedelt haben. Eine junge Frau hat mir erzählt, sie habe mit ihrem Freund nur eine Ein-Zimmer-Wohnung mieten können, weil die Energiekosten sonst zu hoch sein würden. Denn die Gehälter sind im Keller.

Was erwarten die Ukrainer von Europa?

Sichtbare Zeichen der Unterstützung wie eine Visa-Liberalisierung, damit gerade für die jungen Leute Europa erlebbar wird.

Das könnte die Flüchtlingsproblematik in der EU weiter verschärfen.

Auch ohne die Visa-Liberalisierung kommen bereits viele Flüchtlinge aus der Ukraine nach Polen. Sollte sich der Krieg verschärfen, würden die Flüchtlingszahlen weiter nach oben schnellen.

Wie sehen Sie die innenpolitischen Spannungen, vor allem in Bezug auf den Rechten Sektor, der kürzlich in Kiew demonstriert und den Sturz von Präsident Poroschenko gefordert hat?

Der Rechte Sektor war mit mehreren Tausend Menschen auf der Straße. Politisch spielt er jedoch keine große Rolle. Die Regierung geht daran, diese Kräfte zu entwaffnen oder in die reguläre Armee einzugliedern.

Der Rechte Sektor war mit mehreren Tausend Menschen auf der Straße. Politisch spielt er jedoch keine große Rolle. Die Regierung geht daran, diese Kräfte zu entwaffnen oder in die reguläre Armee einzugliedern.

Deutschland übernimmt zum 1. Januar den Vorsitz der OSZE-Beobachtermission. Was ist von den Deutschen zu erwarten?

Zunächst: Wir brauchen generell mehr OSZE-Beobachter. Es sind nicht mal 600, nötig wären bis zu 1000. Die OSZE ist ein zentraler Hebelpunkt geworden, um den Gesprächsfaden aufrechtzuerhalten.

Sie sehen also Chancen, mit Russland diplomatisch weiterzukommen?

Ja, hier müssen wir auch ansetzen. Flankiert von den Sanktionen, die ihre Wirkung zeigen. Europa muss dabei Geschlossenheit zeigen. Diplomatie ist in der aktuellen Krisen das stärkste und wirkungsvollste Instrument der Europäer, das es neben den Sanktionen gibt.