1. Startseite
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Atemberaubend, völlig losgelöst

Mit "Gravity" hat Hollywood die Schwerkraft besiegt - und Filmgeschichte geschrieben Atemberaubend, völlig losgelöst

Von Oliver Schlicht 24.09.2013, 16:25

Berlin l Shuttle, Satelliten, Raumstationen, die von Weltraumschrott-Geschossen fast geräuschlos zertrümmert werden. Mittendrin zwei Astronauten und ein Raketenrucksack. Und die schwerelose Kamera filmt minutenlang ohne Schnitt. "Gravity" ist das Filmereignis des Jahres.

"Life in space is impossible" steht wie ein letzter Warnhinweis quer über der Leinwand, dann ist der Zuschauer mittendrin im Weltall. Der Blick ruht auf der Erde. Gefühlte sechzig Sekunden lang. Keine Musik, leiser Funkverkehr. Nur die Erde. Meer, Kontinente, Gebirge. Winzig klein schwebt von rechts unten langsam ein Shuttle ins Bild. Es wird größer. Ein kleiner Satellit scheint es zu umkreisen.

Es ist Matt Kowalski (George Clooney), der lang gediente Raumfahrer. Er düst munter umher mit dem Jetpack auf dem Rücken und hört dabei Countrymusik. Wie ein Cowboy, der die Herde beschützt. Heute ist Kowalskis letzter Außeneinsatz. "Genieße es", sagt der Commander im Houston-Space-Center. Das tut er. Und der Zuschauer mit ihm.

Denn immer wieder blickt er gemeinsam mit Kowalski hinab auf die blaue Kugel. Völlig losgelöst von allen physikalischen Einschränkungen begleitet ihn das Kameraauge um das Shuttle herum, durch Kranarme hindurch, an dem eingefangenen Hubble-Telescope vorbei. Dort schraubt Dr. Ryan (Sandra Bullock) an elektronischen Platinen herum.

Der Astronautin einfach bei der Arbeit zusehen

Es ist so wundervoll, so unaufgeregt, so selten zu erleben, wie der Zuschauer ihr minutenlang einfach beim Arbeiten zuschauen darf. Wie hantiert es sich in einem Raumanzug? Welche Werkzeuge benutzt sie? Und später: Wie bedient man die Steuerung einer russischen Sojus-Kapsel?

Eine Schraube entgleitet ihr und schwebt langsam in den dreidimensionalen Zuschauersaal. Kowalski streckt den Arm aus, greift mit seinem dicken Handschuh das Schräubchen und holt es aus dem Saal in den Film zurück. Fast möchte der Zuschauer aufstehen und einschweben in diese faszinierende Welt.

Unfassbare 20 Minuten. Die ersten 20 Minuten dieses Films schreiben Filmgeschichte. Kein Schnitt. Nur Weltall, Erde, Mensch. Schwerelos, fast lautlos. Von einer dokumentarischen Eindringlichkeit, unterstützt durch die Aufhebung der Schwerkraft von wirklich allen Gegenständen, die es so im Kino noch nie gegeben hat. Und zwar mit aller Konsequenz. Menschen und Trümmer verhalten sich im luftleeren Raum wie Billardkugeln.

Dass der Film seine Wirkung dabei fernab von modern anmutender Computervisualisierung erzielt, ist überraschend und großartig gleichermaßen. Kein Effekt wirkt aufgesetzt um des Effektes willen. Regisseur Alfonso Cuaron hat die realistische Darstellung des Weltalls streng der Story untergeordnet. So erhält der Film bei aller technischen Perfektion einen analogen Look, der an Filme wie "2001: Odyssee im Weltraum" (1968) oder mehr noch "Lautlos im Weltraum" (1972) erinnert.

Die Story spielt in naher Zukunft. Sie ist einfach und fast banal. Keine Laserschwerte, keine Aliens. Nur zwei Menschen, die im Angesicht der Katastrophe ums Überleben kämpfen. Das Inferno kommt schnell und zerstörerisch in Form von Weltraum-Müll. Die Russen sind schuld. Sie haben einen Satelliten zerstört und dabei unbewusst riesige Mengen von Trümmer-Geschossen fabriziert, die nun um die Erde ihre Kreise ziehen.

Von einer rettenden Insel zur nächsten

Kowalski und Ryan überleben den "Erstangriff", doch weitere folgen. Der Sauerstoff nimmt ab, es geht von einer rettenden Insel zur nächsten. Spielorte sind die ISS, eine Sojus-Kapsel und eine chinesische Weltraumstation. Für Verwicklung im engeren Wortsinn sorgt der offene Brems-Schirm einer zuvor beschädigten Raumkapsel, der nun an der ISS durch den Weltraum wabert.

Wie klein der Mensch ist, zeigt der Film darin, mit welcher Beiläufigkeit die Hochtechnologie von Amerikanern, Russen, Europäern und Chinesen zerlegt wird. Und er zeigt es in der überragenden Darstellung von Sandra Bullock.

Sie spielt in den ruhigen Momenten des Films ihre Sehnsucht nach Leben und Geborgenheit mit großer Überzeugung und fern von Sentimentalität. Regisseur Cuaron unterstützt diese Darstellung mit einer leicht distanzierenden Bildsprache.

So weint Ryan in einem Moment der Ruhe bitterlich, weil es ihr nicht gelingt, sich mit einem asiatischen Funker auf der Erde sinnvoll zu verständigen. Fasziniert verfolgt die Kamera ihre Tränen, die winzig und schwerelos vor ihrem Gesicht schweben. In einer anderen Szene umfängt sie der schützende Raum der Raumkapsel wie eine Gebärmutter. Wie ein Embryo schwebt sie erschöpft und völlig zusammengesunken vor der Ausstiegsluke.

"Ich war wie vom Blitz getroffen, es hat mich aus den Socken gehauen", staunte James Cameron ("Avatar", "Abyss") kürzlich im Interview mit dem US-Magazin "Variety". "Meiner Meinung nach ist ,Gravity\' der beste Weltraum-Film, der jemals gemacht wurde. Und es ist der Film, auf den ich schon eine furchtbar lange Zeit gewartet habe", so der Regisseur.

Hollywood hat die Schwerkraft besiegt. "Gravity" ist eine Zäsur in der Filmgeschichte. Zukünftige Weltraum-Filme werden sich an ihm messen lassen müssen. Kinostart ist der 3. Oktober.