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Neue Luther-Biografie Mitteldeutsche Querköpfigkeit

Ganz Deutschland bereitet sich auf das Reformationsjubiläum 2017 vor. Ausstellungen werden geplant, Kirchen restauriert, Bücher über Martin Luther geschrieben. Das neueste stammt von dem Historiker und Schriftsteller Klaus-Rüdiger Mai. Uta Baier sprach mit ihm über seine Sicht auf den Reformator.

13.09.2014, 01:16

Sie haben eine neue Luther-Biografie geschrieben. Ist nicht schon alles gesagt?
Klaus-Rüdiger Mai: Es gibt keine abschließende Wahrheit über Martin Luther. Jede Generation muss sich ihr eigenes Bild machen. Für mich war die große Überraschung bei der Beschäftigung mit Martin Luther, dass es Fragen gibt, die noch nie gestellt worden sind.

Welche sind das?
Das sind drei Komplexe. Erstens: Nach den jüngsten archäologischen Funden und Erkenntnissen gibt es viel Genaueres über Luthers Herkunft, Kindheit und Jugend zu erzählen, als das bisher möglich war. Zweitens betrachte ich erstmals seine Pilgerreise nach Rom als prägendes Erlebnis.

Und drittens?
Drittens zeige ich, dass es das sogenannte "Turmerlebnis" - Luther erkennt im Turmzimmer des Wittenberger Augustinerklosters schlagartig, dass der Glaube kein Verdienst des Menschen, sondern eine Gnade Gottes ist - gar nicht gegeben hat. Stattdessen fand ein atemberaubender Entwicklungsprozess hin zu dieser Erkenntnis statt.

"Ich wollte dem Leser keine rührselige Familiensoap zeichnen."

Ihr Buch bricht ab kurz nach dem Wormser Reichstag, auf dem Luther die berühmten Worte "Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen" sprach. Warum beschreiben Sie nicht auch Luthers neues Leben als Ehemann und Familienvater?
Mir war es wichtig, Luthers Werden, die Entwicklung seines Denkens und seiner Theologie zu beschreiben. Nach dem Reichstag in Worms war diese Entwicklung abgeschlossen. Es gab einen neuen Zugang zum Glauben, das "Ich" war entdeckt, das Projekt der Gewissensfreiheit formuliert. Mir war es wichtig, dem Leser einen Martin Luther vorzustellen, der unser neuzeitliches Bewusstsein erzeugt hat und keine rührselige Familiensoap zu zeichnen. Mit Sicherheit werden andere die Geschichten danach, die Geschichte seiner Ehe mit Katharina von Bora erzählen.

Es gibt Historiker, die bezweifeln, dass Luther seine 95 Thesen jemals an die Tür der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen hat. Sie werfen diesen Historikern Weltfremdheit vor. Warum?
Es gibt in der historischen Forschung immer Wellenbewegungen. Häufig werden nur längst bekannte Fakten beliebig oft uminterpretiert, ohne die Realität des Lebens einzubeziehen. Aber alles spricht dafür, dass Luther seine Thesen angeschlagen hat. So war es üblich, wenn man zu einer Disputation, zu einem Streitgespräch, einlud.

Luther wird oft als aufbrausend, der Fäkalsprache zugeneigt, als rechthaberisch beschrieben. Davon liest man bei Ihnen nichts.
Es war nichts Außergewöhnliches, so hart und auch aufbrausend zu schreiben, wie Luther schrieb. Das war der Ton der Zeit. Luther wollte verständlich sein, also nutzte er das Deutsch, das auch vom gemeinen Mann verstanden wurde. Er wollte unbedingt überzeugen - das mag oft rechthaberisch klingen, hat aber viel mit seiner mitteldeutschen Querköpfigkeit zu tun.

"Freiheit heißt bei ihm, Verantwortung zu übernehmen. Was ist moderner?"

Nicht nur seine Sprache war drastisch, auch seine Aussagen über die Juden erschrecken den heutigen Leser. Wie erklären Sie sich das?
Luther hatte immer ein kompliziertes Verhältnis zum Glauben der Juden. Es ist eine enttäuschte Liebe von Luthers Seite, der nicht verstehen konnte, warum die Juden sich nicht zu seinem Glauben bekehren wollten. Von heute aus betrachtet, sind Luthers Polemiken gegen die Juden - mit denen er direkt nur ganz selten Kontakt hatte - absolut kritikwürdig. Doch man muss zwischen Anti-Judaismus und Anti-Semitismus unterscheiden.

Sie sind in Egeln aufgewachsen, Luther kam auf einer seiner Reisen durch Egeln, schreiben Sie. Was für ein Zufall! Ist dieses Zusammentreffen Dichtung oder Wahrheit?
Es gibt keinen direkten Beweis, dass Luther in Egeln war, aber wenn er von Mansfeld nach Magdeburg wollte, musste er entweder über Egeln oder über Staßfurt gehen. Ich habe mich in meinem Buch für Egeln entschieden - auch als Hommage an meine Heimatstadt.

2017 gibt es die großen Feiern zum Thesenanschlag - welchen Luther soll man feiern?
Für mich persönlich ist der Luther der Interessanteste, der die "Freiheit eines Christenmenschen" proklamiert hat. Das ist absolut modern, denn es ging ihm immer um das eigene Gewissen, dem allein man zu folgen hatte. Freiheit heißt bei ihm, Verantwortung zu übernehmen. Was ist moderner?

Klaus-Rüdiger Mai: "Martin Luther. Prophet der Freiheit" , Kreuz Verlag, 448 Seiten, 22 Euro