1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Burg
  6. >
  7. Die Wolllust des letzten Schafscherers

Seltener Beruf Die Wolllust des letzten Schafscherers

Es klingt nach einem Beruf aus grauer Vorzeit: Schafscherer. Der Grabower Bernd Schrödl war schon bei Weltmeisterschaften.

Von Juliane Just 12.08.2016, 06:30

Grabow l Neugierig spähen sie aus ihrem Stall heraus. Das wollige Fell ist zwar noch nicht lang genug zum Scheren, doch der Grünthaler Bernd Schrödl möchte die Prozedur vorführen. Flink packt er eines der Schafe am Bein und zieht es zur Scherbank. Mit geübten Handgriffen dreht er das auf den Rücken und setzt seine Maschine in Gang. Das überraschte Schaf liegt seelenruhig in seinen Armen, wehrt sich nicht im geringsten. Fast könnte man meinen, das Tier genieße die Prozedur.

„Gewöhnen werden sich die Tiere daran nie“, sagt Bernd Schrödl lachend, während das geschorene Schaf kopfschüttelnd zu seiner Herde zurücktrottet. „Sie dürfen nur keinen Halt mit ihren Beinen finden, ansonsten sind sie sofort weg.“ Der 53-Jährige spricht aus langjähriger Erfahrung. Unzählige Schafrassen hat er bereits geschoren, viele Kilometer ist er dafür um die Welt gereist und kann seinen Enkeln Geschichten erzählen, von denen deren Augen groß werden.

Manchmal liegt die Berufswahl in den Genen. Sein Opa, den Bernd Schrödl nur von Erzählungen kennt, war Schafscherer. Der gebürtige Parchauer entschied sich deshalb und wegen seiner Tierliebe zu DDR-Zeiten gegen eine Ausbildung zum Förster und besuchte stattdessen Europas einzige Schäferschule in Wettin-Löbejün. Zwei Jahre lang lernte er alles rund um die wolligen Tiere – Fütterung, Haltung, Betriebsführung und Ökonomie.

Etwa 500 Schafe standen ab 1982 nach der Ausbildung unter Bernd Schrödls Obhut. In der LPG Parchau war er als Schäfer angestellt und versorgte seine Schützlinge. Er freundete sich mit dem Sohn des Meisters an. „Wenn du hier fertig bist, kommst du mit Schafe scheren“, sagte dieser zu Schrödl. Nichtwissend, dass die Zukunft damit eine völlig neue Gestalt annehmen würde.

Der Beruf des Schafscherers gehörte zu DDR-Zeiten nicht nur Ausbildung des Schäfers dazu, sondern war ein eigener Berufszweig. Ein Jahr musste man einen Schafscher-Meister bei seiner Arbeit begleiten, um selbst das offizielle Zertifikat zu erhalten. „Ich entschied mich dafür, diesen Beruf zusätzlich zu lernen“, erzählt Bernd Schrödl. Das Ausbildungsjahr reiste er mit seinem Meister durch Halle, Halberstadt und den Harz.

„Nahezu jeder Ort hatte zu DDR-Zeiten eine eigene Schafherde“, erzählt Schrödl. Wenn die Wolle einmal im Jahr runter musste, gab es also für die Berufsgruppe allerhand zu tun. Dreieinhalb Millionen Schafe gab es damals in Deutschland. Heute sind es noch knapp eine Million. Nicht nur der Beruf brachte viel Geld ein, auch das Geschäft mit der Wolle war noch lukrativ.

Der heute 53-Jährige lernte von seinem Meister, wie das Scheren funktioniert. „Es gibt Grundlagen, aber jeder entwickelt seinen eigenen Scherstil“, erklärt Schrödl. Die Maschine läuft elektrisch. Über einen sogenannten Kamm, ein zackenförmiges Metallteil, bewegt sich ein metallisches Schneidelement hin und her. So fällt die Wolle beim Scheren in großen Decken herunter. „Für die Maschine gibt es verschiedene Kammaufsätze, denn jede Wolle ist anders“, erklärt der Schafscherer. Die Redewendung „Nicht alle über einen Kamm scheren“ kommt aus der Schäfersprache und beschreibt genau diesen Wechsel des Kamms je nach Wolle des Schafes. Bernd Schrödl lernte noch die Bankschermethode. Dabei wird das Tier auf eine etwa 30 Zentimeter hohe Holzbank gesetzt oder gelegt und geschoren.

Für Bernd Schrödl war das Lehrjahr ein hartes. Von 6 bis 18 Uhr scherte er täglich Schafe. Nur selten konnte er Wochenenden oder freie Tage genießen. „Ich war mit viel Freude bei der Sache“, erzählt Schrödl. Doch die Arbeit sei körperlich sehr anstrengend gewesen. „Ich wog damals 60 Kilogramm, ein Schaf wiegt im Durchschnitt 80 Kilogramm. Das mehrere Stunden am Tag zu stemmen, ist hart“, erinnert sich der schlanke Schäfer zurück.

Bis zu Wende zog er mit dem Sohn seines einstiges Lehrmeisters oder seinem Bruder durch Deutschland und nahm den Schafen im Land die Wolle. „Allein hier im Umkreis habe ich pro Jahr etwas 35 000 Tiere geschoren“, erzähl der heutige Grünthaler nicht ohne Stolz. Dabei wurden die Scherer pro Schaf bezahlt. Etwa 1,10 Deutsche Mark verdiente er pro geschorenem Schaf. „Bei bis zu 85 Schafen am Tag kam eine enorme Summe am Ende des Monats zusammen“, erzählt Schrödl.

Wochenlang war der gelernte Schäfer in ganz Deutschland unterwegs, um seinen Beruf auszuüben. „Wir schliefen oftmals in Ställen, ein richtiges Bett bot man uns selten an“, so der 53-Jährige. Im damaligen Westdeutschland war man begeistert von den beruflichen Schafscherern des Ostens. „Schafscherer waren dort hauptberuflich zum Beispiel Maurer und scherten am Wochenende nur nebenbei“, so Schrödl.

In den alten Bundesländern hörte der gebürtige Parchauer zum ersten Mal von Schurwettbewerben und einer internationalen Weltmeisterschaft. „Der Blick über den Tellerrand gelang mir – daran wollte ich gern teilnehmen“, sagt Schrödl. So rief er mit dem Sohn des Meisters die ersten Landesmeisterschaften ins Leben. 1992 traten erstmals Schafscherer aus Sachsen-Anhalt gegeneinander an.

Die Regeln waren streng. Eine Schurordnung gab den Teilnehmenden die Hauptkriterien vor. Maßstab war nicht nur die Zeit, in der eine bestimmte Anzahl von Schafen geschoren wurde, sondern auch die Handhabung des Tiers, die Sauberkeit des Schnittes, die Qualität des Scherens und das Fehlen von Verletzungen. „Ich war seit 1992 ununterbrochen Landesmeister, bis ich nicht mehr teilnahm“, erzählt der Schafscherer a.D. lächelnd. 1993 trat er für Sachsen-Anhalt bei den Deutschen Meisterschaften an und wurde Dritter.

Drei Jahre später erklomm der Grabower mit seiner Schermaschine andere Kontinente. Im Jahr 1996 trat er zum ersten Mal bei der Schafscher-Weltmeisterschaft an. Dafür ging die Reise nach Neuseeland. „Es handelte sich dabei um offene Meisterschaft. Die Reise war mit hohem finanziellen Aufwand verbunden, aber ich wollte unbedingt daran teilnehmen“, schwärmt Schrödl. Bis zu 10 000 Schafe werden bei einer solchen Weltmeisterschaft geschoren – das bedeutet tonnenweise Wolle, das ratternde Geräusch der Schermaschinen in der Halle und im Akkord abgeschorene Tiere.

„Ich war erstaunt, wie Menschen aus anderen Ländern scheren“, erzählt der Scherer aus Sachsen-Anhalt. Er habe die traditionelle Bankschurmethode gelernt und bleibe dabei. „Viele lassen die Bank inzwischen weg und scheren im Stehen“, erklärt der Experte.

Im internationalen Vergleich konnte der gebürtige Parchauer sich nicht an die Spitze kämpfen. Doch das war ihm egal – dabei sein war alles. 1998 versuchte er sein Glück erneut bei der Weltmeisterschaft in Irland. „Dort hatte ich eine gute Platzierung. Von 70 Teilnehmenden schaffte ich es auf Platz 33“, erzählt Schrödl. Vor allem die Natur in Irland habe ihn beeindruckt.

Im Gedächtnis geblieben ist jedoch vor allem seine letzte Weltmeisterschaft im Jahr 2000. Wieder legte er tausende Kilometer zurück – Südafrika war Dreh- und Angelpunkt der Weltmeisterschaft. „Der Zustand der Schafe war katastrophal“, erinnert er sich zurück. „Sie waren abgemagert und hatten viele Hautlappen. Es war fast unmöglich sie beim Scheren nicht zu verletzen.“

Nach der Wende legte Bernd Schrödl sich eine eigene Schafherde zu, die er bewirtschaftete. Später kamen Rennpferde dazu, die er seit den 90er Jahren und bis heute züchtet. Bei der Suche nach einer geeigneten Fläche stieß er auf eine 53 Hektar große Fläche in Grünthal bei Grabow und kaufte sie. Darauf steht sein heutiges Heim, grasen einige Schafe sowie Rennpferde.

Über die Jahre wurde es ruhig um das Schafscheren. „Immer weniger Bauern im Umkreis besitzen Schafe und man wird eben älter“, sagt Bernd Schrödl. Die körperliche Anstrengung spüre man deutlicher in den Knochen. Auch heute schere er noch Schafe in und um Grabow, doch die einstigen Wandertage durch die Bundesrepublik mit mehreren hundert Schafen am Tag seien gezählt.

Mit seiner Passion und seinem Können ist und bleibt er einer der letzten beruflichen Schafscherer in Sachsen-Anhalt. Etwa 300 000 Schafen hat er das flauschige Fell seit Beginn seiner Ausbildung geschoren. „Der Beruf lässt mich auch nach all den Jahren nicht los“, sagt der 53-Jährige. „Wenn ich jemanden beim Scheren zuschaue, krabbelt es mir regelrecht in den Fingern.“