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Mittwochnacht Fliegerbombe hält Halberstadt in Atem

Arbeiter finden am 12. August 2015 in Halberstadt eine Fliegerbombe. Rund 5200 Menschen mussten nachts ihre Wohnungen verlassen.

Von Dennis Lotzmann 13.08.2015, 00:22

Halberstadt l Hitze, Lärm und stundenlange Bagger- und Tiefbauarbeiten. Das ermüdet nicht nur, die Monotonie lässt die Aufmerksamkeit schwinden. Rund 500 Tonnen Sprengbomben und 60 Tonnen Brandbomben sind während des Zweiten Weltkriegs über Halberstadt abgeworfen worden, sagt Stadtchronist Werner Hartmann. Ein Fakt, der bei Tiefbauarbeiten absolute Aufmerksamkeit zum obersten Gebot macht. Das wissen auch Peter Langer und seine Kollegen von einer Tief- und Gleisbaufirma aus Brandenburg. Deswegen ist Polier Langer augenblicklich hellwach, als die Schaufel des Baggers plötzlich an rostigem Metall kratzt: Eine Bombe! Die Uhr zeigt wenige Minuten nach 15 Uhr, als Peter Langer der Schreck durch Mark und Bein fährt. „Wir haben einen Sechser im Lotto gehabt, dass die nicht hochgegangen ist“, sagt der Polier.

Wenige Stunden später ist in Halberstadt die ganze Katastrophen-Maschinerie angelaufen: Der Krisenstab mit Vertretern von Polizei, Feuerwehr und den Verantwortlichen der Kreisverwaltung sitzt zusammen und hört, was die Sprengmeister Dieter Schwarz und Torsten Kresse vom Kampfmittelbeseitigungsdienst des Landes vorschlagen: 300 Meter Sicherheitsradius rund um die Bombe, die mit ihrer todbringenden Fracht seit sieben Jahrzehnten gut einen Meter tief unter den Straßenbahngleisen im Kreuzungsbereich von Kühlinger Straße und Schwanebecker Straße schlummert.

Tausende Fahrzeuge, darunter tonnenschwere Laster und Straßenbahnen, sind Tag für Tag über den Blindgänger gedonnert. Nun müssen binnen zwei Stunden rund 5200 Menschen ihre Wohnungen verlassen, damit Dieter Schwarz und Torsten Kresse in die Baugrube steigen und dem Blindgänger amerikanischer Bauart für immer seinen Schrecken nehmen können.

Für die Beiden, die seit Jahren Bomben entschärfen, ist der Einsatz zwar Alltagsroutine, zugleich aber stets neuer Nervenkitzel. Niemand weiß, wie sieben Jahrzehnte mit Feuchtigkeit, Frost und Erschütterungen der Bombe zugesetzt haben. Deshalb können die beiden Profis, die bei jedem Gang in die Fundgrube ihre Leben riskieren, erst nach Abschluss der Evakuierung endgültig entscheiden, wie sie vorgehen wollen: Können wir vor Ort entschärfen oder müssen wir die Bombe abtransportieren?

Während Schwarz und Kresse unweit der Grube ihre Taktik zumindest theoretisch besprechen und das Werkzeug bereitlegen, sind zig Helfer im Stadtgebiet unterwegs. Nach den letzten Absprachen mit der Polizei und dem Krisenstab beginnt pünktlich um 20.30 Uhr die Evakuierung im Bereich der Kühlinger Straße. Tausende Bewohner müssen sich in Sicherheit bringen. Betroffen sind nicht nur Anwohner in unmittelbarer Nachbarschaft zum Fundort. Auch Anwohner der Thomas-Müntzer-Straße, am Breiten Weg, in der Steinstraße, der Richard-Wagner-Straße müssen ihre Wohnungen verlassen.

Annett Brandt steht mit ihrem Mann Sven Mallon und ihrer Tochter Wilhelmine am Straßenrand. Sie ist besorgt um eine über 80-jährige geh- und sehbehinderte Frau, die sie betreut. Der Polizeibeamte Andreas Bernhardt lässt sie zur Wohnung der Rentnerin in der Quedlinburger Straße durch und bietet weitere Hilfe an.

Wenig später stoppt Bernhardt eine junge Radfahrin. „Ich will zu meiner Mutter, dort übernachten“, sagt Julia John, der Polizeibeamte wünscht der 24-Jährigen einen schönen Abend.

Relativ schnell sind in den betroffenen Wohnblöcken die Menschen informiert, gegen 21 Uhr zieht mit Günter Wiebach der erste Gast in das Notquartier Sporthalle „Völkerfreundschaft“ ein. Dort läuft zwar noch das Training der Handballer, doch Stefanie Burisch, Kerstin Schmieder und Manfred Wegener von der Stadtverwaltung sind vorbereitet. Als immer mehr, vor allem ältere Frauen und Männer eintreffen, ordert das Betreuer-Trio Tische und Bänke. Sie werden im Freien aufgestellt. „In der Halle sind es 28 Grad“, sagt Wegener und bestellt beim Krisenstab der Stadt erfrischende Getränke.

Im Rathaus sitzen Jeannette Schröder, Jörg Willeke und Ute Huch. Den Telefonhörer können sie kaum aus der Hand legen, zahlreiche Anrufe besorgter Anwohner und Angehöriger kommen an. Manche wohnen weit weg, fragen, wer sich um die gehbehinderte Mutter kümmert. Ein betroffener Anwohner will wissen, ob er seinen Wellensittich mitnehmen kann.

Während die drei Verwaltungsmitarbeiter beruhigen, zuhören, Auskunft geben und Hilfe koordinieren, kümmern sich Christopher Thees, Heidrun Reichpietsch und Anke Siebert um die ersten Anwohner, die im Rathaus Schutz suchen.

Gegen 21.30 Uhr sitzen 30 Frauen, Männer und Kinder an den Tischen im Saal, greifen zum bereitgestellten Wasser und warten auf die Entwarnung. Ebenso viele sind es in der Sporthalle „Völkerfreundschaft“.

Auch bei der Polizei werden am Abend alle verfügbaren Kräfte zusammengezogen. Eine genaue Zahl kann Eckhard Gluschke, der die Fäden in der Hand hält, am späten Abend nicht nennen. „Salzlandkreis, Bördekreis und die Bereitschaftstruppe aus Magdeburg – alles was machbar ist, ist im Harz“, so der Kriminaloberrat kurz vor Redaktionsschluss gegen 22.45 Uhr.

Zu diesem Zeitpunkt sind die Evakuierungen noch immer nicht beendet. „Und bevor die beiden Sprengmeister an die Bombe gehen, muss noch ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera das Areal abfliegen“, erklärt der Harzer Kripochef, der aktuell den Revierleiter vertritt. „Wir stehen vor einer langen Nacht.“ Das gilt auch für Dieter Schwarz und Torsten Kresse. Sie wollen die Gefahr für die Halberstädter bannen – viel lange das dauert, ist Nebensache.