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Flüchtlinge und Asylsuchende wollen Deutsch lernen, doch Hilfe gibt es nur von ehrenamtlicher Seite "Die da oben in Berlin lassen uns allein"

Von Conny Kaiser 03.02.2015, 01:23

Eigentlich könnte Kerstin Stirnat (70) ihr Dasein als Rentnerin genießen. Stattdessen grenzt das, was die pensionierte Lehrerin an ehrenamtlicher Arbeit für die Betreuung von Asylbewerbern und Flüchtlingsfamilien leistet, fast schon an das Pensum einer Vollzeitstelle. Finanziell entschädigt wird sie dafür aber nicht.

Kalbe l Ein Schüler fasst sich mit verzerrtem Gesicht an die Wange. Der Syrer, der eigentlich gerade am Deutschunterricht im evangelischen Gemeinderaum in Kalbe teilnehmen wollte, wird von heftigen Zahnschmerzen geplagt. Lehrerin Kerstin Stirnat schreibt ihm einen Zettel, aus dem hervorgeht, was mit ihm los ist. Dann schickt sie den jungen Mann damit zum Zahnarzt. Denn er selbst kann sich (noch) nicht verständigen. Der Syrer, der seit kurzem mit seiner Familie in Kalbe wohnt, beherrscht weder die englische noch die deutsche Sprache.

Und gäbe es Kerstin Stirnat nicht, würde das wahrscheinlich auch erst einmal so bleiben. Doch die pensionierte Lehrerin, die zu ihrer aktiven Zeit Deutsch-, Englisch- und Russischunterricht an örtlichen Bildungseinrichtungen gab, hat sich nach einer entsprechenden Anfrage des Künstlerstadt-Vereins dazu bereiterklärt, sich der in Kalbe untergebrachten Asylbewerber und Flüchtlinge anzunehmen. Und sie hilft ihnen nicht nur bei der Vorbereitung von Behördengängen. Seit September 2014 gibt sie ihnen auch zweimal in der Woche für mehrere Stunden Sprachunterricht. Und zwar im Gemeinderaum an der Pfarrstege, den der Kirchgemeindeverband dafür kostenfrei zur Verfügung stellt.

"Die meisten von ihnen sind Fachkräfte und würden gern etwas tun."

Pädagogin Kerstin Stirnat

Gäbe es dieses Angebot nicht, hätten die Erwachsenen, die aus unterschiedlichen Krisengebieten der Welt stammen (siehe Info-Kasten), kaum eine Chance, Deutsch zu lernen. Denn weil ihr Status noch nicht abschließend geklärt ist und sich dieses, beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anhängige Verfahren über mehrere Jahre hinziehen kann, haben sie weder Anspruch auf einen sogenannten Integrationskurs, geschweige denn auf eine Arbeit. Sie sind quasi zur Untätigkeit verdammt. "Dabei sind die meisten von ihnen Fachkräfte. Und sie würden gern etwas tun", weiß Kerstin Stirnat und sagt kopfschüttelnd: "Hier läuft etwas komplett falsch."

Wie prekär die Lage insbesondere für junge Eltern ist, macht der 29-jährige Ajmal deutlich. Er stammt aus Afghanistan und lebt mit seiner Frau und seinen Kindern, drei und fünf Jahre alt, seit etwa einem halben Jahr in Kalbe. Während sein Nachwuchs, der tagsüber in einer Kita betreut wird, dank des ständigen Umganges mit Gleichaltrigen schnell gelernt hat, Deutsch zu verstehen und auch zu sprechen, ist es für ihn als Vater deutlich schwieriger. Er könne sich leider nicht richtig verständigen, wenn dann nur in englischer Sprache. Umso dankbarer sei er für das Angebot, am Deutschunterricht mit Kerstin Stirnat teilzunehmen. Und der studierte Ingenieur kommt regelmäßig in den Gemeinderaum.

Genau wie mehr als ein Dutzend weitere Asylbewerber beziehungsweise Flüchtlinge. Schwierig sei aber, dass einige schon länger dabei seien, andere hingegen neu dazukämen. Für diese sei es schwierig, den Stoff dann aufzuholen, sagt Kerstin Stirnat, die das Unterrichtsmaterial selbst zusammengestellt hat. Mithilfe der Stadtverwaltung konnte sie auch die erforderlichen Kopien für ihre Schüler anfertigen.

Für ihre ehrenamtliche Tätigkeit erhält die Kalbenserin allerdings keine finanzielle Entschädigung. Im Gegenteil. Zuweilen geht sie sogar in Vorkasse. So hat sie zum Beispiel gerade aus eigener Tasche zehn Schulbücher finanziert. Kosten pro Stück: 14 Euro. Eine Spendensammlung, die sie demnächst plant, soll dazu beitragen, wenigstens einen Teil des Geldes wieder hereinzuholen.

Mithilfe besagter Bücher, die den Titel "Deutsch als Fremdsprache" tragen, sollen die Flüchtlinge und Asylbewerber auf jenen Test vorbereitet werden, der neben der Status-Anerkennung als Voraussetzung für die Teilnahme am Integrationskurs gilt. Doch Unterstützung von staatlicher Seite gibt es dafür nicht. "Die da oben in Berlin lassen uns hier unten mit dem Problem komplett allein", sagt Kerstin Stirnat. Der Stadt und dem Altmarkkreis macht sie dabei aber keinen Vorwurf. Letzterer bringt die Asylbewerber und Flüchtlinge zwar vor Ort unter. Doch werden sie ihm zuvor selbst über die Zentrale Aufnahmestelle des Landes Sachsen-Anhalt - diese befindet sich in Halberstadt - zugeteilt. Und der Kreis ist nach einem speziellen Schlüssel dazu verpflichtet, eine bestimmte Anzahl von Neuankömmlingen aufzunehmen.

"Dank ehrenamtlichen Engagements läuft es in Kalbe absolut super."

Kreis-Dezernent Hans Thiele

Die Unterbringung erfolgt teils zentral in Gemeinschaftsunterkünften wie in Gardelegen, teils dezentral wie in der Milde-Stadt. "Dank des ehrenamtlichen Engagements", so der zuständige Dezernent der Kreisverwaltung, Hans Thiele, "läuft es in Kalbe aber absolut super". Zwar erfolge auch über eigene Kräfte sowie über die Arbeiterwohlfahrt, bei der es dafür eine extra Stelle gebe, eine gesonderte Beratung und Betreuung der Asylbewerber und Flüchtlinge. Doch Sprachunterricht könne darüber nicht abgedeckt werden. Der aber ist unablässig, wenn sich Menschen in einem bis dato fremden Land integrieren sollen. "Und da verstehe ich die Politik nicht", sagt Kerstin Stirnat.

Obwohl sie sich eigentlich zurücklehnen und ihr Dasein als Rentnerin genießen könnte, käme sie derzeit nicht auf die Idee, die Asylbewerber und Flüchtlinge sich selbst zu überlassen. Viele sind ihr bereits ans Herz gewachsen. Und die Arbeit mit ihnen macht Kerstin Stirnat auch sichtlich Spaß, selbst wenn es immer wieder Verständigungsschwierigkeiten gibt. Denn einige der Neuankömmlinge haben nicht nur die sprachlichen Probleme, sondern können nicht einmal lesen und schreiben. Auch diesen Menschen, so Kerstin Stirnat, müsse aber geholfen werden. Spricht`s und geht mit allerbestem Beispiel voran.