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Behinderte - Wer braucht wen?

07.01.2012, 04:26

Geben wir es zu: gegenüber Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen nehmen wir oft eine ambivalente Haltung ein. Es ist noch nicht so lange her, dass der Begriff des "Krüppels" aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verbannt und durch den Terminus "Behinderter" ersetzt wurde. Ein Krüppel galt als hässlich und minderwertig, und die Bezeichnung stigmatisierte die Betroffenen aufs Übelste.

Es ist auch erst ein paar Jahrzehnte her, dass die Todesstrafe für "ungenügende Befähigung zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben" ausgesprochen wurde und Zehntausende von Behinderten in den Todesfabriken der Nazis verschwanden. Auch wenn sich bis heute der Umgang mit Behinderten deutlich verbessert hat und das Bestreben, sie an möglichst vielen Lebensbereichen teilnehmen zu lassen offensichtlich ist, so fällt es uns schwer, Behinderte als gleichwertige Mitmenschen anzuerkennen. In einer profit-fokussierten Leistungsgesellschaft gilt die Leistung des Behinderten als ungenügend. Er ist praktisch leistungslos und dadurch gefährdet, als Ausgestoßener sein Leben fristen zu müssen, denn es ist eine logische Konsequenz, dass zahlreiche Menschen ihm latent oder offenkundig die Anerkennung verweigern und in einem Behinderten einen unerwünschten Kostenverursacher sehen.

Behinderte werden größtenteils in Heimen untergebracht. So wie jeder einzelne von uns unliebsame Tatsachen gern verdrängt, sie dadurch versucht, aus seinem Bewusstsein zu löschen, so ähnlich scheint sich hinsichtlich der Behinderten die Gesellschaft zu verhalten: Finanziert sie zum Beispiel - was primär durchaus lobenswert ist - die Versorgung und Unterbringung nicht auch deshalb so großzügig, um häufige Begegnungen zwischen Behinderten und Gesunden zu vermeiden? Spenden wir auch deshalb für Spezialwerkstätten und Heime, damit uns das erspart wird, was wir oft nur schwer ertragen können: den Anblick Behinderter. Ist das bereitgestellte Geld vielleicht auch Ausdruck eines Freikaufens von einer Schuld, das Betäuben eines schlechten Gewissens basierend auf der schuldhaft empfundenen Angst mit einer Situation konfrontiert zu werden, der man nicht gewachsen ist und die die Gesellschaft spalten könnte?

Jede langfristige Unterbringung in speziellen Heimen ist immer auch eine Isolierung. Doch ein Absondern von nicht oder nur wenig leistungsfähigen Menschen, seien es Behinderte, Demenzkranke oder einfach nur die Alten sind letztendlich Lösungen, die den "noch-gesunden Normalbürgern" ein wichtiges Stück Lebensrealität vorenthalten. Behinderte bedürfen unserer Hilfe; doch brauchen wir den Behinderten vielleicht genauso, wie er uns benötigt? Lehrt er uns nicht, dass Leben auch Leiden, Unvollkommenheit relativ und Glücklichsein trotz Behinderung durchaus möglich ist, dass Anderssein zum Leben gehört und somit das Attribut der Minderwertigkeit aus dem Gefühl der Bedrohung, der Angst und dem Hochmut des Stärkeren resultiert. Lehrt uns der Umgang mit Behinderten nicht Bescheidenheit und Demut und macht uns empfänglich für das, was wahrscheinlich noch auf uns zukommen wird?

In diesem Sinn kann sogar durch die positive Auseinandersetzung mit Behinderten der Starke vom Schwachen profitieren, an Lebensweisheit gewinnen, dadurch sein eigenes Leben bereichern und ein Beispiel für gelebte Humanität sein.

Prof. Dr. Ulrich Nellessen ist Ärztlicher Direktor des Johanniter-Krankenhauses