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Jugendwerkhof Burg Der Ort, über den niemand spricht

Der Jugendwerkhof "August Bebel" bei Burg war der größte der DDR. Ehemalige Erzieher schildern im Interview ihre Erinnerungen.

25.04.2014, 13:11

Volksstimme: Warum sind Jugendliche in einen Jugendwerkhof gekommen?
S.: Das waren häufig Kinder, die in der Gesellschaft auffielen, etwa durch Schulbummelei oder Diebstähle. Manche sind auch von zu Hause weggelaufen.
I.: Es kamen Kinder aus Familien, die mit ihnen nicht fertig wurden. Die haben zum Beispiel die Schule abgebrochen. Manche waren "auf Walze", also sind abgehauen. Manche waren leicht kriminell.
Gab es auch politisch motivierte Einweisungen?
S.: Nach der Wende kam raus, dass viele aus Familien kamen, die Ausreiseanträge gestellt hatten oder die nicht gesellschafts-konform lebten.
K.: Ich hatte Mädchen in der Gruppe, die hatten keine Eltern mehr. Die waren nicht schwer erziehbar. Die hätte nie im Werkhof landen dürfen. Aber man wusste nicht wohin mit ihnen.
Wie sah der Alltag im Jugendwerkhof Burg aus?
S.: Morgens wurden die Jugendlichen geweckt, so gegen sechs. Frühsport, Hausreinigung und ein gemeinsames Frühstück. Dann wurden die Jugendlichen mit Bussen abgeholt und zur Arbeit in die Betriebe gebracht. Am Nachmittag gegen vier Uhr kamen sie zurück. Und dann war Freizeit und dann Abendessen. Danach gab es gruppentypische Sachen. Dazu gehörte auch, dass man mit den Jugendlichen die "Aktuelle Kamera" schauen musste.
K.: Ich habe bei den Schichtgruppen gearbeitet. Da war vier Uhr wecken. Danach ging es dann zum Waschen, Bettenmachen, Stuben- oder Revierreinigung, Frühstück und dann ging es auf Arbeit. Am Nachmittag kamen sie zurück. Dann war noch die Gruppenauswertung. Da wurde in der Gruppe der Tag besprochen, was gut geklappt und was weniger gut geklappt hat. Dann war noch Näh- und Flickstunde.
Was gab es denn für Freizeitaktivitäten?
S.: Ganz viel Sport. Volleyball, Tischtennis, Fußball.
K.: Sie konnten sich auch in anderen Arbeitsgemeinschaften anmelden, beim Chor oder Fanfarenzug. Der war sehr beliebt. Die hatten öffentliche Auftritte in der Stadt.
Wie waren denn die Reaktionen der Menschen in Burg, wenn die Jugendlichen aus dem Werkhof mit dem Fanfarenzug spielten?
S.: Es war schon so, dass ein gewisser Stempel da war. Man spürt das heute noch. Vor allem, bei den älteren Leuten. Wenn die "Gut Lüben" hören oder "Parchauer Chaussee", verbinden die das heute noch mit Jugendwerkhof und den schwer erziehbaren Jugendlichen.
Die Jugendlichen sollen nachts in den Häusern, wo sie mit ihren Gruppen untergebracht waren, alleine und eingeschlossen gewesen sein. Stimmt das?
S.: Ja. Das ist auch einer der größten Vorwürfe, die man sich machen muss. Es gab zwar auch Nachtwachen,die Rundgänge gemacht haben. Aber ich glaube, das Ausmaß dessen, was hier nachts unter den Jugendlichen passiert ist, das kennen wir bis heute nicht.
K.: Ich bin mal früh in die Gruppe gekommen, da kam mir einer entgegen mit einem blauen Auge. Ich fragte ihn, was er gemacht habe, da hat er geantwortet: Ich bin in der Nacht in den Keller gegangen und da standen unsere Gartengeräte und da bin ich aus Versehen auf die Harke getreten. Aber wir wussten: der hatte Gruppenkeile gekriegt.
I.: Die waren nachts allein und natürlich ist da viel passiert. Ich weiß aus den Jungengruppen, dass da Sachen passiert sind wie Zigarettenausdrücken auf dem Körper eines anderen. Gegenseitiges Foltern. Manche waren wirklich brutal. Auch Mädchen.
Konnten Sie denn nicht eingreifen?
I.: Es hat sich ja kaum jemand dem Erzieher anvertraut. Stellen Sie sich mal vor, da hätte einer gepetzt. Wenn der Erzieher abends nach Hause gegangen wäre, kaum auszudenken, was demjenigen passiert wäre.
S.: Die Situation ist ähnlich wie im Fernsehen in einem Gefängnis. Wenn da einer geschlagen wird, erzählt der das nicht. Und so war es hier auch. Die haben gesagt: Ich bin gestürzt, so in der Art. Wir haben schon versucht, dem nachzugehen und zu schauen, was passiert ist. Aber das war sehr schwer. Die haben zusammengehalten. Selbst die, die es erwischt hat, die haben aus Angst nichts gesagt. Die waren ja in der nächsten Nacht wieder allein.
K.: Ja, das war ganz schlimm. Wir haben versucht, da Ruhe reinzubringen. Mein Kollege hat sich auf die Lauer gelegt, aber irgendwie haben die Nachtwachen jedes Mal gequatscht, wenn wir gesagt haben, wir machen Kontrollen. Die Jugendlichen wussten das jedes Mal.
Gab es Übergriffe von Erziehern auf Jugendliche?
S.: Es gab sicher sehr strenge Leute, die unterschiedliche Arten hatten, auf die Jugendlichen zuzugehen. Aber von Übergriffen weiß ich nichts.
I.: Ich habe mal im Jugendwerkhof Hummelshain ein Praktikum gemacht. Dort wurde geschlagen. Ich kann mich hier in Burg gar nicht erinnern, dass Erzieher Jugendliche geschlagen haben. Zumindest hatte das hier nicht Methode und war auch nicht erlaubt.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum es so schwierig ist, über die Zeit im Jugendwerkhof zu erzählen?
S.: Ich denke, dass das mit einem schlechten Gewissen zu tun hat, von der Erzieherseite. Ich persönlich sage ganz klar: Dass wir die Jugendlichen nachts alleine gelassen haben, war das Schlimmste, was wir angerichtet haben. Ich habe zwar keinen direkten Einfluss darauf gehabt. Ich konnte es auch nicht abschaffen, aber ich bin hierhergekommen und habe das genauso übernommen, wie es war. Da gibt es schon ein paar Momente, für die ich mich schäme.
I.: Ich denke das kommt daher, dass über diese Zeit einseitig berichtet wurde. Wenn man über Werkhof spricht, dann spricht man über unhaltbare Zustände und meistens meint man Torgau. Damals waren Heimkinder immer Schmuddelkinder. Da hat keiner gern drüber gesprochen. Und heute wahrscheinlich noch weniger. Es gab übrigens im Westen drüben auch Heime, die waren nicht viel besser.