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Internet Wenn Kinder geködert werden

Immer häufiger werden Kinder und Jugendliche in Sachsen-Anhalt Opfer von Sexualstraftaten im Internet.

Von Elisa Sowieja 14.10.2015, 01:01

Magdeburg l Die Zeitungsmeldung über einen Prozess am Magdeburger Landgericht kürzlich hat wohl viele Eltern aufgeschreckt: Der 19-jährige Bastian H. war angeklagt, die erst zwölfjährige Denise, die er bei Facebook kennengelernt hatte, sexuell missbraucht zu haben. Das Urteil fiel mit einem Jahr auf Bewährung relativ mild aus. Denn wie sich herausstellte, schlief das Mädchen mit dem damals 18-Jährigen freiwillig, zudem hatte er es offenbar nicht mit dem Ziel Sex kontaktiert.

Fälle, in denen Erwachsene im Internet bewusst Minderjährige ködern, gibt es jedoch immer wieder, berichtet ein Ermittler für Cyberkriminalität beim Landeskriminalamt (LKA). Demnach sind vor allem Kinder immer häufiger Opfer von Sexualstraftaten im Netz: Im Jahr 2012 gingen in Sachsen-Anhalt 16 entsprechende Anzeigen bei der Polizei ein, 2014 waren es 62, also fast viermal so viele.

Die Dunkelziffer schätzt der Experte noch deutlich höher ein. Die Erfahrung von Carina Walofsky und ihren Kollegen bestärkt diese Vermutung. Die Heilpädagogin arbeitet beim Magdeburger Verein Wildwasser, bei dem Opfer und Eltern nach solchen Taten oft Hilfe suchen. Im Großteil der Fälle werde keine Anzeige erstattet, berichtet sie. „Viele befürchten, nichts beweisen zu können, zum Beispiel, weil sie aus Angst Chatprotokolle gelöscht haben.“

Wie die Polizei hat auch Wildwasser seit drei bis vier Jahren immer häufiger mit Internet-Fällen zu tun, derzeit sind es jährlich geschätzt 15 bis 20.

Die Täter, sagt der LKA-Ermittler, sind nicht etwa nur auf Facebook unterwegs: „Sie nutzen sämtliche Kommunikationskanäle im Internet – von sozialen Netzwerken wie Facebook über Nachrichtendienste wie Whatsapp bis hin zu Videochats wie Skype.“ Darunter sind auch viele Dienste und Seiten, die der normale Internet-Nutzer gar nicht kennt.

Eine gängige Masche ist das sogenannte Cyber Grooming, zu deutsch Internet-Anbahnung. Dabei versuchen Erwachsene, das Vertrauen Minderjähriger zu erschleichen, meist unter falscher Identität. Sie beginnen harmlose Gespräche und lenken diese später in die sexuelle Richtung.

Manche haben zum Ziel, Kinder und Jugendliche mit obszönen Sprüchen und Fotos zu schocken, andere sind auf anzügliche Bilder und Videos aus. Einige bewegen ihre Opfer sogar zu einem Treffen, bei dem kann es zum Missbrauch kommen. Letzteres passiert aber laut Polizeistatistik eher selten.

„Besonders Minderjährige sind im Internet manipulierbar“, sagt der Ermittler. „Die Täter arbeiten hier viel mit Geldversprechen und Drohungen.“ Ein Beispiel aus seinen Akten: Ein Täter gab sich vor einem Zwölfjährigen als Frau aus und überredete ihn, Unterwäschebilder von sich selbst zu machen. Anschließend meldete er sich in der Rolle des Partners dieser Frau. Unter der Drohung, die Bilder zu veröffentlichen, zwang er den Jungen zu einem Treffen, bei dem das Opfer sich vor dem Täter befriedigen musste.

Häufig, berichtet der Experte, werden Opfer sogar weitergereicht. Doch wer ist überhaupt empfänglich für sexuelle Köderei im Internet? Professor Hans-Henning Flechtner, Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Magdeburger Universitätsklinikum, sagt: „Jedes Kind und jeder Jugendliche ist anfällig.“ Denn im Internet erkenne man Gefahren schlechter als in der realen Welt. „Ein reales Gegenüber erzeugt viel mehr Informationen als ein virtuelles. Bei einer Facebook-Bekanntschaft kann ich zum Beispiel keine Blicke beobachten, um zu beurteilen, ob sie gefährlich oder vertrauensvoll ist.“

Nicht immer aber ist der Täter der große Unbekannte. Die Polizei hat auch mit folgendem Szenario häufiger zu tun: Ein Mädel schickt seinem Freund als Liebesbeweis Oben-ohne-Fotos aufs Handy. Als die Beziehung später in die Brüche geht, leitet der Ex die Bilder in einer Whatsapp-Gruppe an seine Kumpels weiter, die verschicken sie wieder. Rechtlich gilt das als Urheberrechtsverstoß. Im vergangenen Jahr sind 18 solcher Anzeigen mit dem Internet als Tatort und Minderjährigen als Opfer bei der Polizei im Land eingegangen.

Aufklärung über die Gefahren anzüglicher Fotos gehören für Juliane Epp und Ariane Pedt vom Verein fjp-media zum Berufsalltag. Sie leiten im Auftrag des Landes Präventionsseminare in Schulen zum Thema Sicherheit im Internet. Hierbei stellen sie eines immer wieder fest, berichtet Epp: „Viele Jugendliche geben zu viele Daten von sich preis.“

Damit meinen die beiden etwa auf den ersten Blick harmlose Fotos, die aber Sexualtäter anlocken könnten. Wenn sie sich mit Schülern deren Profile bei sozialen Netzwerken anschauen, sehen sie häufiger Mädels mit Lippenstift und tiefem Ausschnitt – manchmal sogar erst zehn Jahre alt – oder Jungs beim Sport mit freiem Oberkörper. „Vor allem den Jüngeren ist die Wirkung oft gar nicht bewusst“, sagt Pedt.

Auch mit Infos wie Kontaktdaten gingen viele freigiebig um. Mit ein paar Klicks in den Privatsphäre-Einstellungen, sagen Epp und Pedt, lasse sich die Gefahr allerdings einschränken.

In der Frage, was Eltern tun können, um ihre Kinder zu schützen, sind sich die Experten einig: Der erhobene Zeigefinger bringt nichts. Lieber soll man sich vom Spross zeigen lassen, was er im Internet macht, sagt der LKA-Ermittler. Sozialpädagogin Pedt rät zudem: Man muss seinem Kind verdeutlichen, dass es immer zu einem kommen kann, wenn ihm im Internet Dinge seltsam vorkommen oder etwas passiert ist.

Auch Hinweise auf andere Ansprechpartner wie Schulsozialarbeiter hält sie für sinnvoll. „Außerdem muss man seinem Kind erklären: Dein Körper gehört dir; wenn du etwas nicht möchtest, dann sage ‚nein‘.“

Wenn Opfer von Sexualtätern im Internet zu Wildwasser kommen, berichtet Walofsky, merkt man ihnen oft Dreierlei an: Hilflosigkeit, geringes Selbstbewusstsein und Schuldgefühle. Letztere hegen ihr zufolge auch oft die Eltern. „Wir erklären dann allen in getrennten Gesprächen, dass sie nicht schuld sind.“ Den Opfern hilft man zudem, indem man einen Schutzplan erarbeitet – dazu kann das Aufräumen der eigenen Profilseiten gehören oder ein Reaktionsszenario für den Fall, dass man erneut kontaktiert wird.

Die Identität der Täter aufzudecken, gelingt der Polizei oft nicht. Besonders schwierige Fälle werden an die Abteilung Cyberkriminalität des LKA weitergegeben. Die Beamten sichern nicht nur Spuren auf Rechnern und vernehmen Zeugen, sie fordern auch Daten von Betreibern betroffener Internetseiten an, zum Beispiel Profilinformationen des Verdächtigen und seine IP-Adresse (identifizierbarer Code eines jeden Rechners). Das ist manchmal ein langwieriger Prozess, erklärt der Ermittler. Denn viele Seiten laufen über ausländische Server.

Und dann gibt es aus seiner Sicht noch eine weitere Schwierigkeit – eine, bei der die Opfer mithelfen können: „Oft kommen sie so spät, dass die Beweisdaten nicht mehr gespeichert sind.“ Denn viele Anbieter löschen sie nach sieben Tagen. „Deshalb ist es wichtig, dass man so schnell wie möglich zur Polizei geht.“