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Luftfracht Nachts erwacht der Gigant

Am Flughafen Leipzig-Halle liegt Europas größtes Luftfrachtdrehkreuz. Tagsüber schläft der Gigant, nachts werden seine Ausmaße deutlich.

Von Jörn Wegner 08.07.2016, 01:01

Schkeuditz l Wenn in Schkeuditz und im nahen Leipzig die Lichter in den Wohnhäusern ausgehen, die Sommersonnne am Horizont nur noch zu erahnen ist und die letzte Passagiermaschine am Flughafen Leipzig-Halle gelandet ist, erwacht das dortige Drehkreuz des Logistik-unternehmens DHL zum Leben. Es ist 23 Uhr und die Parkplätze vor dem riesigen gelben Gebäude an der Bundesstraße 6 füllen sich. Über den Kreisverkehr, in den zuvor nur gelegentlich ein Auto eingebogen ist, fahren nun Fahrzeuge ohne Unterlass. Firmeneigene Busse bringen Arbeiter in gelben Uniformen auf das DHL-Gelände, das ein eigenes Ortsschild mit der Aufschrift „DHL-Hub“ hat. Hub ist Englisch und steht für ein Drehkreuz oder einen Knotenpunkt. Wenn Waren per Flugzeug nach Deutschland und Mitteleuropa gebracht werden, landen sie in der Regel zuerst in Schkeuditz. Jetzt, kurz vor Mitternacht, grüßen sich die Arbeiter mit „Guten Morgen“.

An diesem Abend ist hoher und vor allem zahlreicher Besuch zu Gast bei DHL. Die Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes besucht das größte Luftfrachtdrehkreuz Europas im Rahmen ihrer Sommertour. DGB-Chef Reiner Hoffmann ist dabei. Und mit ihm im Tross Vertreter anderer DGB-Gewerkschaften. Bei DHL fehlt nur die IG Metall, ein Vertreter der NGG kommt später, erklärt Hoffmann beim Empfang mit Häppchen und Orangensaft in einem Konferenzraum der DHL. „Seit Montag sind wir unterwegs“, sagt er. Zuvor waren die Gewerkschafter bei der Polizei in Köln, bei Bayer, haben ein Gymnasium und die Arbeiter eines Schlachtbetriebs besucht. Jetzt steht der riesige Betrieb zwischen Leipzig und Halle auf dem Tourenplan.

Der DHL-Hub ist ein wahres Jobwunder. Im strukturschwachen Nordsachsen, am Rande der Niedriglohnstadt Leipzig, arbeiten heute mehr als 4400 Menschen. Noch vor einigen Jahren war am DHL-Standort nur Wiese und Brachland.

DHL-Vorstand Melanie Kreis begrüßt die Gäste mit blumigen Worten. „Ein ganz besonderer Standort“ sei Schkeuditz. In fast alle Regionen der Erde könne man aus Sachsen Waren fliegen, mit einer Ausnahme. Einige Gewerkschafter wissen die Antwort schnell. „Nein“, sagt Melanie Kreis, „unter Einhaltung der komplexen Embargovorschriften können wir auch nach Nordkorea versenden.“ Vielmehr ist es Turkmenistan, dessen Diktator das Expressfrachtgeschäft lieber in nationaler Hand sieht.

„Das Verhältnis zwischen der DHL-Vorstandsfrau und den Gewerkschaftern scheint gut zu sein. Der Organisationsgrad der Beschäftigten im Betrieb ist hoch. Entsprechend vorzeigbar ist der Tarifvertrag, den Verdi mit der DHL abgeschlossen hat. „Da, wo wir handlungsfähige Betriebsräte haben, gibt es bessere Arbeit“, sagt Reiner Hoffmann.

Dieter Pleyer ist Vorsitzender des Betriebsrates im DHL-Hub. Als es Ende des vergangenen Jahrzehnts in Schkeuditz losging, sah es alles andere als rosig aus, erzählt er. Mit vielen Millionen Fördergeld und 4,51 Euro Stundenlohn als Einstiegsgehalt ist der Hub einst gestartet. Trotzdem habe es zur Eröffnung 13 000 Bewerbungen gegeben. „Keine besonders gute gewerkschaftliche Ausgangsbasis“ sei das gewesen, so Pleyer. Mit dem Tarifvertrag für das Logistikgewerbe in Brandenburg als Grundlage ist die Gewerkschaft in Verhandlungen gegangen. Heute liegt das Einstiegsgehalt bei 12,70 Euro in der Stunde. So viel verdienen die sogenannten Ramp Agents, Packer, die die Container entleeren und wieder bestücken.

Von dessen Arbeit können sich die DGB-Vertreter später ein Bild machen. Während des Empfangs am Abend zeigt sich das Flughafenvorfeld vor den Panoramafenstern des Konferenzraumes noch verwaist. Vereinzelt parken Ersatzmaschinen, nur wenige Arbeiter sind zu sehen. Eine einzige Maschine hebt ab, dann kehrt wieder Ruhe ein. Eine besondere Fracht ist zu sehen, aufgemotzte teure Geländewagen aus deutscher Produktion. „Es ist tatsächlich so: Will der Scheich seine zehn Porsche sofort haben, dann läuft das über uns“, sagt Hub-Chef Ralph Wondrak.

Noch warten die Wagen auf die Verladung, denn zum geschäftigen Bienenstock wird der Hub erst nach Sonnenuntergang. Dann schweben die Frachtmaschinen ein. Wegen der Zeitverschiebung zuerst die aus Asien, dann die Maschinen aus dem Westen.

Ein Dreischicht-Betrieb würde im DHL-Hub nicht funktionieren. Aus Gewerkschaftssicht ist das ein Problem. „Wir haben ein schmales Zeitfenster, wo wir viele Hände brauchen“, sagt Betriebsratschef Pleyer. Das Frachtaufkommen beginnt recht plötzlich um Mitternacht und endet in den frühen Morgenstunden. Die Folge ist ein hoher Anteil an Teilzeitbeschäftigten. Etwa 75 Prozent der Mitarbeiter würden über 30 Stunden in der Woche arbeiten, sagt DHL-Sprecher Markus Wohsmann. Anders ausgedrückt liegt ein Viertel bei unter 30 Stunden, und da bleibt zumindest für die Ramp Agents nicht viel zum Leben übrig. Etwas verbessern wird sich die Situation der Teilzeitkräfte im Jahr 2017. Dann wird die Arbeitszeitverkürzung auf 38,5 Stunden wirksam. Für sie bedeutet dies durch den damit verbundenen Anstieg des Stundenlohns mehr Geld. Pleyer und die Vertreter von Verdi sind stolz darauf. „Verhandeln heißt nicht 38,5 Stunden fordern und 39,5 Stunden bekommen“, sagt eine Verdi-Vertreterin. DHL-Vorstand Melanie Kreis steht daneben und nimmt das Gesagte zur Kenntnis.

Was die Arbeit als Ramp Agent bedeutet, können Reiner Hoffmann und die Vertreter der Einzelgewerkschaften bei einer Tour durch die Hallen des Hub erfahren. Dort fahren Pakete und Kisten über kilometerlange Förderbänder, Gabelstapler kreisen durch breite Gänge, Arbeiter fahren auf Rollern von einer Station zur nächsten.

Die Ramp Agents verrichten Knochenarbeit. Für Hoffmann heißt das vor allem, dass sich die Gespräche der Sommertour auf Vorstände und den Betriebsratschef beschränken. Einmal gelingt es dem beständig lächelnden DGB-Chef einige Arbeiter anzusprechen – ein kurzes Gespräch zwischen lärmenden Motoren und scheppernden Flugzeugcontainern.

Letztere müssen die Ramp Agents im Akkord entleeren. Im Express-Frachtgeschäft zählt jede Sekunde. Viele Kunden bestehen darauf, ihre in Fernost oder New York bestellte Ware am nächsten Morgen in den Händen halten zu können. Für den Ramp Agent ist der Frachtcontainer immer eine Art Überraschungsei, erklärt DHL-Mitarbeiterin Kathrin Ganzer, die die Delegation durch die Hallen führt. „Die meisten Container sind Mischcontainer“, sagt sie. Für den Ramp Agent kann das bedeuten, dass er auf kompakte Sendungen trifft, die er schnell entladen kann. Es kann allerdings auch ein Container voller Kleinsendungen sein.

„Beim Entladen ist nichts so schnell wie der Mensch“, sagt Markus Wohsmann. Container automatisch auszuladen habe die Post einmal probiert und ist damit gescheitert. Roboter kommen mit der großen Variation von Formen und Gewichten bei den Sendungen nicht klar. Insofern bleibe das Ein- und Ausladen weiterhin ein Jobmotor, vor allem für wenig oder unpassend qualifizierte Menschen.

Der Hub ist nicht nur ein Ort schwerster körperlicher Arbeit. Im Quality Control Center sitzen vorwiegend junge Menschen vor Monitoren. Auf großen Bildschirmen ist der Luftraum über Europa mit den gerade fliegenden DHL-Maschinen zu sehen. Auf einem anderen laufen Nachrichten ein. Darüber hinaus überwachen die Mitarbeiter das Wetter und kommunizieren mit anderen Standorten. Das Leipziger Center ist eines von insgesamt vier, mit denen es eng vernetzt ist. Weitere Standorte sind Singapur, Cincinnati und der East Midlands Airport bei Nottingham. Zur Arbeit zählt auch Wirtschaftsanalyse. Wenn etwa Apple ein neues Produkt auf den Markt bringt, laufen Prognosen über zu erwartende Frachtaufkommen im Quality Control Center zusammen, erklärt Leiter Michael Malek. Wer dort arbeitet, hat in der Regel einen Universitätsabschluss und beherrscht mehrere Fremdsprachen. „Im Team haben wir 25 verschiedene Nationalitäten“, sagt Malek.

Dass moderne Logistik mehr ist als Lasten zu transportieren, wird im Hangar deutlich. Helge Probst ist Director Business Planning und sagt, dass man diese Jobposition nicht einfach übersetzen kann. „Planungschef“ zumindest reiche nicht. Probst steht im riesigen Hangar, der einst für die nicht realisierte A380-Transportmaschine ausgelegt wurde. Zwei Stück würden davon hineinpassen oder zwei Antonow 225, von denen es aber nur eine gibt. Stattdessen ist Platz für zwölf normalgroße Flugzeuge. Wenn der Hangar voll ist, ist das „ein riesiges Tetrisspiel“, sagt Probst.

310 hochspezialisierte Flugzeugmechaniker und 250 Piloten finden in dem Bereich Arbeit. „Wir haben Hightech-Arbeitsplätze geschaffen. Das gab es vorher nicht in der Region.“

Die Maschinen aus dem Riesenhangar stehen nachts in großer Zahl vor der Hub-Halle. „Je später die Nacht, desto gelber das Vorfeld“, sagt DHL-Mitarbeiterin Kathrin Ganzer während der abschließenden spätnächtlichen Bustour über das Gelände. Bei den Gewerkschaftern ist längst Klassenfahrtatmosphäre ausgebrochen. Von den Tausenden Mitarbeitern, die während der DGB-Tour im Inneren des Giganten den europäischen Frachtumschlag organisiert haben, dürfte indes kaum jemand von der Sommertour mitbekommen haben.