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Dehoga-Chef Kauschus beklagt die "Geiz-ist-geil-Gesellschaft" In Angern trotzt der Wirt der "Sonne" dem Kneipensterben

07.05.2013, 18:14

Angern. Hat die Dorfkneipe eine Zukunft? Kaum, wie es scheint. Verrammelte Fenster, Namensschriften an bröckelnden Fassaden - solche Anblicke bieten sich in vielen Gemeinden. Doch es gibt auch Ausnahmen.

Burkhard Fischer poliert noch ein Bierglas hinter dem Tresen. 14 Uhr, ein Pärchen hat eben noch bezahlt, nun schließt der Gasthof "Zur Sonne" bis zum frühen Abend. "In den frühen 1960er Jahren hieß unsere Gaststätte noch ,Zum Deutschen Reich\'. Aber dann kam die Kreisleitung und bestand auf einen neuen Namen", erzählt der Wirt. Seine Mutter habe schließlich die Sonne ins Spiel gebracht. "Weil die Sonne doch in allen politischen Systemen scheint."

Mutter Hildegard steht trotz ihrer 86 Jahre mit Kittelschürze und Blümchen-Pantoffeln noch heute in der Küche und klopft Schnitzel. "Die werden bei uns immer frisch paniert. Fertigschnitzel - so was gibt es hier nicht", schwört Burkhards Ehefrau, Lora-Anne Fischer, die auch in der Küche arbeitet.

Drei Fischers mit langer Tradition. 1884 hatte Urgroßvater August Müller die erste Gaststätten-Konzession für das "Deutsche Reich" in Angern (Bördekreis, 2100 Einwohner) erworben. Nach der Wiedervereinigung ging der Betrieb an den heute 53-jährigen Burkhard Fischer über.

Dass rund herum in den Dörfern viele Schankbetriebe in den vergangenen 20 Jahren dichtgemacht haben, blieb dem Wirt nicht verborgen. "Der Saal und die Terrasse haben uns gerettet. 1995 haben wir groß angebaut, und alle haben uns für verrückt erklärt", erzählt er. Heute, glaubt er, würde so etwas keine Bank mehr finanzieren.

Aktuell ist der Saal der "Sonne" bis 2016 mit Terminen belegt. Hochzeiten, Geburtstage, Konfirmationen und vieles mehr. Fischer: "Viele kommen auch aus den umliegenden Dörfern, weil es dort eine Gaststätte mit Saal nicht mehr gibt."

Aber auch, was den eigentlichen Gaststättenbetrieb betrifft, könne er über Gästemangel nicht klagen. "Da kommt der Chor, der Skatclub, der Schützenverein. Jeder hat so seinen Wochentag." Und wenn das Wetter schön ist, kommen die Fahrradfahrer vom Elberadwanderweg herüber, der in fünf Kilometer Entfernung an Angern vorbeiführt.

Früher seien die LPG-Bauern jeden Tag vom Acker direkt in die Kneipe gekommen, erzählt der Wirt. "12 bis 15 100-Liter-Fässer Bier in der Woche waren normal. Das verbrauchen wir heute im Monat." Den Umsatz macht die "Sonne" inzwischen mehr mit Speisen.

"Mit Angestellten könnten wir uns das nicht leisten"

Burkhard Fischer: "Aber eines ist sicher. Mit Angestellten könnten wir uns das nicht leisten. Nur weil alle in der Familie mitmachen, geht das." Von den zwei erwachsenen Kindern wird vielleicht der 29-jährige Maik die "Sonne" übernehmen. Der gelernte Koch arbeitet derzeit in Hannover. Führt er die Familientradition in Angern fort? Das Ehepaar Fischer zuckt mit den Achseln: "Wir arbeiten noch dran", sagt Maiks Mutter diplomatisch.

Aber die "Sonne" hat immerhin eine Perspektive. Andernorts bietet sich ein anderes Bild. Geschlossene, oftmals seit Jahren verrammelte Gaststätten sind in den Dörfern mehr die Regel als die Ausnahme. Und das längst nicht nur in Sachsen-Anhalt. Jede vierte Kneipe hat in Deutschland seit dem Jahr 2001 dichtgemacht.

Das geht aus Zahlen hervor, die das Statistische Bundesamt 2012 für die "Welt am Sonntag" erarbeitet hat. Dargestellt wurde die Anzahl der Schankbetriebe und wie sie sich zwischen den Jahren 2001 und 2010 entwickelt haben. Besonders stark betroffen vom Rückgang waren demnach die Länder Hamburg (-48,1 Prozent) und Niedersachsen (-41,2 Prozent). Aber auch Sachsen-Anhalt gehört mit einem Minus von 33,4 Prozent zu den Ländern mit starkem Rückgang. Lediglich in Berlin (+95,8 Prozent) und Baden-Württemberg (+15,3 Prozent) stieg die Zahl der Kneipen in dem Zeitraum, was der Zunahme des Tourismus in diesen Ländern zugeordnet wird.

Die Gründe für den Rückgang sind ansonsten vielfältig. Zum einen sind sie dem allgemeinen Bevölkerungsdefizit geschuldet. Vor allem junge Menschen - traditionell eine wichtige Zielgruppe von Kneipen - zieht es in die Städte. Andererseits ist vielen Wirten der Trend zur Selbstversorgung bei der Feuerwehr, im Sportverein oder im Bürgerhaus ein Dorn im Auge.

Für René Kauschus, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) in Sachsen-Anhalt, ist der Kneipenrückgang "ein Indiz für die Geiz-ist-geil-Mentalität der heutigen Gesellschaft", sagt er. "Da wird der Kneipenbesuch allein am Bierpreis festgemacht. Warum soll ich beim Wirt über zwei Euro für das Bier bezahlen, wenn ich die Büchse beim Discounter für 51 Cent bekomme."

Der Wirt müsse Steuern abführen und viele Unkosten tragen, die ein gastronomischer Betrieb mit sich bringt. Eine Gaststätte biete dafür Atmos-phäre und gesellschaftliche Kontakte. Kauschus: "Das hat einen wichtigen Lebenswert im Dorf. Mit jedem Besuch in der Gaststätte trägt man zum Erhalt dieses Wertes bei."

Ein Patentrezept, wie das Kneipensterben zu stoppen sei, hat aber auch der Dehoga-Chef nicht. "Uns erreichen viele Bitten von Bürgermeistern zur Vermittlung von Wirten, weil Gaststätten aus Nachwuchsmangel geschlossen werden", erzählt er. Allerdings sei es kaum möglich, für solche Angebote junge Gastronomen zu gewinnen. Kauschus: "Da besteht so gut wie kein Interesse."

"Die Gaststätte der Zukunft ist ein Mix aus Bistro, Café und Kneipe"

Wie sieht die Kneipe der Zukunft aus? Horst Opaschowski, Freizeit- und Zukunftsforscher aus Hamburg, hat da sehr genaue Vorstellungen: "Aus der Gastronomie muss eine neue Gastrosophie werden - ein Mix aus Bistro, Café und Kneipe. Ein Treffpunkt und Wohlfühloase. Ein zweites Zuhause - wie früher auch - nur ganz anders." Der Biertresen sei für die Coffee-to-go-Generation kein Anziehungspunkt mehr. Internetcafés mit WLAN-Anschluss seien da attraktiver, von In-Treffs und Szene-Lokalen ganz abgesehen.

Dass moderne digitale Kommunikationsmöglichkeiten über soziale Netzwerke daran Schuld sind, dass Kneipen für junge Leute kein Treffpunkt mehr sind, glaubt er nicht. "Facebook ist ja ganz schön, aber der Face-to-Face-Kontakt ist noch schöner. Orte, die dies ermöglichen, werden auch in Zukunft nicht aussterben", meint Horst Opaschowski.


Mehr zum demografischen Wandel in Sachsen-Anhalt lesen Sie im Volksstimme-Dossier "Das Land im Wandel".