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Ein Schreibwütiger Schriftsteller Gerhard Roth wird 75

Der Autor Gerhard Roth veränderte mit Kraft und einer einzigartigen Fantasie den Blick der Leser auf die Wirklichkeit. Nun wird einer der großen Erzähler der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 75. Ein Besuch in seiner südsteirischen Heimat.

Von Von Amadeus Ulrich, dpa 23.06.2017, 22:59
Gerhard Roth in seinem  Haus in Kopreinigg (Österreich). Foto: Amadeus Ulrich
Gerhard Roth in seinem Haus in Kopreinigg (Österreich). Foto: Amadeus Ulrich dpa

Kopreinigg (dpa) - Der Schriftsteller betritt die von Wein umrankte Veranda und beginnt, zu erzählen. Vom Wesen des Menschen, über die Beziehung mit seinem Vater, von der Kraft der Kunst.

Am Samstag (24. Juni) wird Gerhard Roth, eine der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, 75 Jahre alt. Alt fühle er sich nicht. "Im Kopf bin ich ein Jüngling, nur der Körper ist ein Greis." Die Zeit sei unglaublich schnell vergangen.

Seit vier Jahrzehnten wohnt er mit seiner Frau in dem kleinen Ort Kopreinigg in der österreichischen Südsteiermark. In der Ferne ist ein Steinbruch zu sehen, den Roth mit dem Inferno aus Dante Alighieris "Göttliche Komödie" verbindet. Manchmal betrachte er die Arbeiter von oben und staune, wie winzig sie aussehen, sagt er, und lächelt.

Unter einem Nussbaum in seinem Garten sind die meisten von Roths preisgekrönten und teils verfilmten Romanen, Erzählungen, Essays und Theaterstücken mit Billigkugelschreibern entstanden. Bekannt ist der gebürtige Grazer vor allem für seine siebenbändigen Zyklen "Die Archive des Schweigens" (1980-1991) und "Orkus" (1995-2011). Sie sind eine Tour de Force der Erzählkunst. In dem Werk, das er als "Doppelhelix" beschreibt, nutzt er jedes Genre. Er zeichnet, experimentiert und dichtet.

Mit sprachlicher Kraft, Fantasie und Tiefe entwirft Roth komplexe Dimensionen und Figuren und fordert das Wirklichkeitsverständnis der Leser heraus. Er ist ein Grenzgänger, ein Schreibwütiger mit unerschöpflichem Erfindungsgeist, dem es um nichts weniger als um das Ganze geht.

Es war Roths Großmutter väterlicherseits, die ihm in jungen Jahren die Literatur näherbrachte. Sie erzählte ihm Fragmente von Geschichten, die ihr Enkel vollenden sollte; gemeinsam bastelten sie Bücher. Oft schnalzte sie laut, denn sie litt am Tourette-Syndrom, und hatte, wie Roth in "Das Alphabet der Zeit" schreibt, eine "dämonische Präsenz" über ihn. "Du bist ein Künstler!", rief sie einmal. Daraufhin meinte sein Vater, ein Arzt, sie verderbe den Jungen. Dieser war, wie Roth erzählt, "besessen" von dem Gedanken, dass sein Sohn ebenfalls Arzt wird. So schrieb Roth heimlich. Doch sein Vater entdeckte das Heft und schmiss es in den Ofen.

Drei Tage vor Roths 18. Geburtstag kam das erste von drei Kindern mit seiner damaligen Frau, einer Schauspielerin, zur Welt. Er begann ein Medizinstudium, das er nach zwölf Semestern abbrach, und arbeitete für ein Grazer Computerrechenzentrum. Nachts und am Wochenende schrieb er einen Roman, dessen erste Version einem Wasserrohrbruch zum Opfer fiel. "die autobiografie des albert einstein" erschien schließlich, als er Anfang 30 war. Darin erzählt Roth eine Geschichte aus der Sicht eines Geisteskranken. Schlagartig machte er sich in der Literaturszene einen Namen, traf Günter Grass, spielte Fußball gegen Peter Handke und Max Frisch, ging mit Stipendien nach Hamburg und in die USA und schrieb, so viel er konnte.

Zwei seiner großen Themen sind der Nationalsozialismus, vor allem im Hinblick darauf, wozu der Mensch fähig ist, und die Geisteskranken, die Roth als "Rebellen gegen die Normalität" bezeichnet. Er prägte den Begriff des "Normopathen", der zeigen soll, wie krankhaft es sein kann, vorgegebenen Verhaltensweisen zu folgen. Ab 1976 besuchte er oft die Landesnervenheilanstalt Gugging nahe Wien, schrieb über die Patienten, fotografierte sie, zeigte ihre Kunstwerke.

Fasziniert ist Roth auch von Bienen. In "Landläufiger Tod", einem kafkaesken Werk, beschreibt er, dass die Insekten kein Rot sehen, dafür aber ultraviolettes Licht. "Diese Tatsache lässt jeden vernünftigen Menschen daran zweifeln, dass die Farben etwas Tatsächliches sind."

Wenn Roth, dieser bärenhafte Mann mit dem weißen Vollbart, spricht, wirkt es, als könne er immerfort erzählen, ganz gleich, worüber. Wird ihm eine Frage gestellt, beugt er sich vor, da er nicht mehr gut hört. Katzen huschen während des Gesprächs durchs Gras vor seinem Haus, das Nachbarshuhn stakst umher. Blickt man von der Veranda durch eines der Fenster, sieht man nur: Bücher. Schreiben sei für ihn eine Sucht, sagt er. "Ich muss das machen, sonst geht es mir nicht gut. Die Bücher waren meine Rettung, sie sind ein Weg in eine andere Wirklichkeit." Die reine Wirklichkeit sei unerträglich.

Oft ist der 75-Jährige dem Tod knapp entkommen. Als Kind erstickte er beinahe an einer Fotolinse, eines anderen Tages ertrank er fast im Meer und mit 19 hörte sein Herz auf, zu schlagen. Immer rettete ihn sein Vater. Früh sei Roth klar geworden, wie leicht es ist, zu sterben. Auch eine beidseitige Lungenembolie überlebte er.

Heute steht er, komplett in Schwarz gekleidet, munter vor einem Bücherregal. "Das ist nicht viel", murmelt er, als er auf seine Werke blickt. Er benötige mindestens noch einmal 75 Jahre, um all das zu schreiben, was er gerne schreiben würde. Roth verbraucht Billigkugelschreiber, solange er kann; jedes Buch ist für ihn ein Neuanfang. "Ich muss mich überraschen." Im September erscheint "Die Irrfahrt des Michael Aldrian", der erste Teil einer Venedig-Trilogie.

Zeit seines Autorenlebens war Roth bestrebt, das Wesen des Menschen und das Rätsel des Lebens zu entziffern. Ob ihm das gelungen ist? Die Antwort ist, dass es keine Antwort gibt, zitiert er sinngemäß die US-amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein. In "Landläufiger Tod" heißt es da einmal, das Nichtverstehen habe seine Vorzüge.

Gerd Roth beim Fischer Verlag