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Protest gegen Putin Aus Zufriedenheit ist Frust geworden

Der russische Soziologe Lew Gudkow über Proteste gegen Putin in Russland, zur Stimmung in seinem Land und zur jungen Generation.

Von Mandy Ganske-Zapf 12.07.2017, 23:01

Im Juni und im März gab es die beiden größten Demonstrationen der vergangenen Jahre. Angesichts der großen Zustimmung für Putin kam das für viele unerwartet. Auch für Sie?

Lew Gudkow: Einen Anstieg der Proteststimmung beo-bachten wir schon seit Jahresbeginn. Kam es nach der Krim-Annexion zu einer Euphorie und einem Aufschwung des russischen Nationalismus, schufen die Sanktionen und die Wirtschaftskrise eine neue Situation. Das von Putin vorgenommene Importverbot bei Lebensmitteln brachte zudem Einschnitte mit sich. Die Krise förderte neuen Unmut.

Nun gingen Tausende gegen Korruption demonstrieren. Anlass waren schwere Vorwürfe gegen Premier Medwedew. Erhoben hat sie Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, der 2018 eine Präsidentschaftskandidatur anstrebt und zum Protest aufgerufen hat. Mit dabei: auffällig viele Jugendliche, oder?

Das stimmt, jedoch haben wir es nicht mit einem Generationenwechsel zu tun, wie oft behauptet. Das Durchschnittsalter bei Demonstrationen liegt gewöhnlich zwischen 45 und 50 Jahre. Weil bei diesen beiden Protesttagen praktisch keine offizielle Erlaubnis vorlag, ist ein Teil der Leute zu Hause geblieben. So hat man die Jugend erst richtig bemerkt.

Worum geht es den jungen Leuten, die plötzlich in den Fokus rücken?

In den vergangenen zwei Jahren hat sich in den Schulen und Universitäten ein ideologischer Druck auf sie verstärkt – im Kontext staatlicher Programme zur patriotischen Erziehung und der Rückkehr zu traditionellen Werten. Das leistete einer Gegenbewegung Vorschub, die sich vor allem „gegen Lügen der Regierung“, „gegen ideologische Propaganda“ und „gegen Korruption“ richtet. Alexej Nawalny war nur ein Stimulus für die Proteste, nicht der Grund.

Diese Jugendlichen sind unter Putin aufgewachsen. Was macht sie aus?

Die Jugend ist innerhalb der russischen Bevölkerung die Gruppe, die dem Präsidenten gegenüber am loyalsten ist. Sie kam unter Putin zur Welt und war einer propagandistischen Bestrahlung ausgesetzt. Putin verkörpert für sie ein wiedererstarktes Russland, das dem Westen die Stirn bietet. Das gefällt ihnen. Soweit zum Allgemeinen. Es gibt jedoch eine schmale Schicht aus gut ausgebildeten und informierten Mittelstandsfamilien der Städte. Sie haben Einstellungen ihrer Eltern übernommen. Vom Autoritarismus sehen sie eine Gefahr ausgehen. Innerhalb dieser Gruppe entsteht ein Protestgeist. Welche konkreten Hintergründe die Teilnehmer der neueren Proteste haben, müssen wir allerdings noch erforschen.

Sie sagten, viele Ältere seien zu Hause geblieben. Wieso?

Aus Angst. Sie haben mit vielen Verhaftungen gerechnet, und das hat sich bewahrheitet. Die Älteren kennen die So-wjetmacht noch und wie hart sie durchgreifen konnte. Die Jugend dagegen ist furchtlos: Sie ist mit Bewegungsfreiheit innerhalb einer vielschichtigen Konsum- und Unterhaltungskultur aufgewachsen. Es war ihre erste Lehrstunde.

In welchem Zustand befindet sich die russische Gesellschaft im Moment?

Die mit Stolz erfüllte Zufriedenheit, die es nach der Krim-Annexion gab, wird zu Frustration. Es gibt die Besorgnis, aus der Konfrontation mit dem Westen könnte ein großer Krieg werden.

Tausende auf der Straße und trotzdem mehr als 80 Prozent Zustimmung für Putin – ein Widerspruch?

Erstens: Die Proteste umfassen nur einen kleinen Teil der Gesellschaft. Zweitens: Alle Erfolge Putins erscheinen mit der Außenpolitik verknüpft, die Innenpolitik wird kritischer gesehen. Ein Großteil der Kritik wird auf Premier Medwedew projiziert. Wer ihm Korruption vorwirft, meint implizit auch Putin – hat aber Angst, das so zu sagen.

Ihr Zentrum wurde wie viele andere NGOs im vergangenen Jahr zu einem sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?

Wir mussten die Zusammenarbeit mit internationalen Universitäten beenden – was auch finanzielle Probleme verursacht. Vor vier Gerichten haben wir schon verloren. Jedes Urteil hatte den gleichen Text, inklusive der Rechtschreibfehler. Nun ziehen wir vors Verfassungsgericht – auch weil wir damit unsere Würde verteidigen.