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Somalia Mit dem Vieh verhungern die Menschen

Tote Ziegen und Kamele sind die Vorboten der drohenden Hungersnot in Somalia.

26.02.2017, 23:01

Garowe (dpa) l Die Somalierin Saida Mousseh Mohammed Hassan hat in ihrem Leben viel erlebt und erlitten: Bürgerkrieg, Krankheiten und jetzt Dürre und Hunger. Die tiefen Falten im Gesicht der etwa 80-Jährigen und ihre rissigen Füße erzählen vom Nomadenleben im unwirtlichen Nordosten Somalias. Vor einigen Monaten noch besaß Hassan etwa 300 Ziegen. Jetzt blickt sie starr auf die Skelette von einem Dutzend ihrer Tiere, die ausgeweidet von Hyänen in der Sonne liegen.

Hassan zählt zu den 6,2 Millionen Somaliern, etwa der Hälfte der Bevölkerung des Landes am Horn von Afrika, die von einer schweren Dürre betroffen sind. Somalia steht am Rande zu einer Hungersnot, warnen die Vereinten Nationen. Bei der letzten Hungersnot 2011 kamen mehr als 250.000 Menschen ums Leben.

Über Monate hinweg suchte Hassan mit ihrer Familie vergeblich nach Weideland und Futter für das Vieh. Nach mehreren ausgefallenen Regenzeiten sind nur noch Dornbüsche übrig geblieben. Ziege, Kamel und Mensch hungern im Nordosten Somalias gemeinsam.

Wenn Ziegen und Kamele verenden, schrillen bei Experten die Alarmglocken. Der Mensch kommt als nächstes. Knapp drei Millionen Menschen brauchen UN-Angaben zufolge dringend Lebensmittelhilfe. Mehr als 360.000 Kinder sind akut mangelernährt, Zehntausende davon vom Hungertod bedroht. Diese Zahlen könnten sich den UN zufolge im Laufe des Jahres verdreifachen, wenn nicht rasch mehr Hilfe kommt.

„Vieh ist das Rückgrat unserer Wirtschaft, die Lebensgrundlage dieses Landes und dieser Menschen“, erklärt der Vizepräsident von Puntland, Abdihakim Abdullahi Omar Amey in seinem Büro in der regionalen Hauptstadt Garowe. Mehr als die Hälfte der Nutztiere sei verendet. „Die Lage ist sehr ernst und sehr angespannt. Menschen sterben.“

Seit November lebt Hassan in einem der zahlreichen Zeltlager, die sich um Ortschaften gebildet haben. Hier in Usguro, mitten in der Halbwüste, haben sich die Dorfältesten im Schatten eines Akazienbaums versammelt. „Die Menschen, die stark genug sind, haben sich zur Küste aufgemacht“, erklärt Abshir Hirsi Ali. Doch das wenige Futter, das spärliche Regenfälle brachten, sei schon wieder abgeweidet.

„Die Schwachen sind hier. Und die Menschen, die ihren ganzen Viehbestand verloren haben“, Ali blickt über die Zelte der Nomaden, bedeckt mit Grasmatten und Plastikplanen. Die Schwachen sind Kinder, Ältere, Kranke und die, die sich um sie kümmern – zumeist Frauen. Unter ihnen ist Abshiro Said. Die 19-Jährige hatte im sechsten Monat eine Fehlgeburt. Sie sei nicht die Einzige. Ihre eineinhalb Jahre alte Tochter weint. Sie habe Malaria.

Seit November haben sich Ali zufolge 316 Haushalte mit je bis zu 13 Mitgliedern hier angesiedelt. Die Neuankömmlinge vom Vortag habe er noch nicht gezählt. Damit hat sich Usguros ursprüngliche Einwohnerzahl von 3500 etwa verdoppelt. Im Wasserreservoir, das von Lastwagen befüllt wird, steht knietief dunkelgrünes Wasser.

Somalia ist das Musterbeispiel für einen gescheiterten Staat („failed state“). Nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs, des Kampfs gegen den Terror islamistischer Extremisten der Al-Shabaab und zumeist ohne funktionsfähige Zentralregierung zählt Somalia zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Die Al-Shabaab-Milizen kontrollieren Gebiete im Süden und im Zentrum.

Mehr als eine Million Somalier sind in Nachbarländer geflohen. Noch einmal so viele sind Binnenflüchtlinge. Helfer können die Menschen aufgrund der Sicherheitslage nicht oder nur beschränkt unterstützen.

Dorfbewohner und nomadische Viehhirten sind traditionell voneinander abhängig. Die Dorfbewohner kaufen Milch, Butter und Vieh zum Schlachten, die Nomaden Grundnahrungsmittel wie Reis, Mehl, Speiseöl und Kleidung. Viele Preise sind im Vergleich zum Vorjahr um 30 bis 50 Prozent gestiegen, erzählt Abshiro Abdi Rahman hinter der Theke ihres kleinen Ladens in Usguro.

Vor etwa zwei Monaten habe sie das letzte Mal Fleisch gegessen, erinnert sie sich. Ziegenfleisch sei es gewesen. Jetzt gibt es höchstens Dosenthunfisch aus Thailand als Ersatz. Ein Dollar für 90 Gramm. Mit den Schulgebühren für ihre sieben Kinder sei sie zwei Monate im Rückstand.

Zu den jüngsten Bewohnern im Zeltlager ein paar Hundert Meter weiter zählt der erst fünf Tage alte Sohn von Muhubo Ahmed Jama. „Ich habe nicht genug Milch zum Stillen.“ Jama ist schwach und hustet unentwegt. Nur vier ihrer einstmals 400 Ziegen sind noch am Leben. Der Rest sei verhungert oder verdurstet. Sie hat Kopfweh, Durchfall und muss sich erbrechen. Medizinische Versorgung gibt es hier keine.

Darüber klagt auch Hadima Elmi El Salah, ein paar Zelte weiter. Zwei ihrer Enkelkinder sind abgemagert und krank. Ihre Mutter habe die Kleinen ins 160 Kilometer entfernte Krankenhaus nach Garowe gebracht. Dort sitzt Haua Yussuf Ali mit ihren Töchtern auf einem Bett in der Spezialabteilung für Mangel- und Unterernährung. Das Zentrum wurde vergangenes Jahr errichtet, geleitet von den Organisationen Save the Children und World Vision. Besonders der Dreijährigen Hamdi geht es schlecht. Ihr Kopf sitzt wacklig auf dem dazu unproportioniert kleinen Körper. Als sie vor Schwäche einschläft, sieht man das Weiß ihrer nach hinten gerollten Augen. Hamdi atmet flach und schnell.

„Wegen des Klimawandels haben wir fast fortwährend eine Dürre“, erklärt Vizepräsident Omar. Seit Februar 2016 bitte er die internationale Gemeinschaft um Hilfe. Für den Hilfseinsatz in Somalia sind den UN zufolge in diesem Jahr 864 Millionen Dollar (rund 814 Millionen Euro) nötig. Nur etwa sechs Prozent stehen bisher zur Verfügung.

Es brauche rasche Soforthilfe, auch um Nutztiere am Leben zu erhalten, mahnt der UN-Sonderbeauftragte für Somalia, Peter de Clerq. Ansonsten gehe es bald nur mehr darum, Menschen vor dem Hungertod zu retten. „In einem solchen Fall wird es weitaus länger dauern, bis die Menschen zu einem normalen Leben zurückfinden.“

Die jüngsten Warnungen vor einer Hungersnot hat die internationale Gemeinschaft wachgerüttelt. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sagte ostafrikanischen Ländern am Freitag 100 Millionen Euro Hilfe zu. „Wir müssen die Menschen langfristig vor den Auswirkungen von Dürren schützen“, sagte Entwicklungshilfeminister Gerd Müller.

Auf dem Ziegenmarkt in Garowe schüttelt Mittelsmann Dahir Ahmed Mohamed den Kopf. „Es wird schlimmer und schlimmer“, beschreibt er den Zustand der Ziegen. Er vermittelt hier die Tiere der nomadischen Viehhirten. Mohamed zieht eine Ziege am Bein her. „47 Dollar“, sagt er. Das sei der Preis für ein kräftiges Tier. Die mageren, von denen es immer mehr gebe, bekomme man für die Hälfte.

Hunderte Tiere wechseln hier täglich den Besitzer. „Manche bringen jetzt alle Tiere, die sie noch haben“, erzählt Mohamed. Denn die Hoffnung auf Futter und Wasser schwinde. Mit dem Verkauf der Tiere können sich die nomadischen Viehhirten eine Zeit lang wieder Lebensmittel leisten. Ihre Lebensgrundlage jedoch ist weg.